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Der fahrende Schüler
jüdisches Volksmärchen


In dem Hause »zu dem Springbrunnen« in Worms lebte einst ein frommer Mann, der hatte eine einzige Tochter, die ebenso fromm als schön war. Eines Abends, als sie in der Haustür stand, ging ein fahrender Student vorbei und rief ihr zu, er werde des Nachts ins Haus kommen.

Mit den fahrenden Studenten stand es aber so: Ein Hexenmeister hatte einmal ein Zauberrad gemacht. Auf dieses Rad konnten vor jedem Umdrehen zehn Menschen sich setzen. Aber bevor es einmal herum war, hatte der Meister jedes Mal einen von ihnen ums Leben gebracht. Dafür hatten die anderen dabei die ganze Hexenkunst gelernt und konnten tun, was ihnen beliebte. Als später dieser Unfug überhandnahm, wurde das Rad vernichtet. Aber die fahrenden Studenten hatten ohnehin in jener Zeit große Freiheiten und taten, was sie wollten.

Um also den Anschlag des Studenten zu vereiteln, lud der Vater des Mädchens zehn Gelehrte ein, welche die ganze Nacht hindurch studieren und disputieren sollten. Mitten unter ihnen saß seine Tochter.

Als jedoch die Mitternacht herankam, schliefen die Gelehrten einer nach dem andern ein. So laut das Mädchen in seiner Angst auch rief, sie waren nicht zu wecken. Da trat der Student herein und sprach: »Siehst du, was all' dein Sorgen und Schreien nützt?« Doch das mutige Mädchen hatte zur Vorsorge ein Messer bereitgehalten und damit stieß sie den frechen Eindringling nieder. Es entstand ein großer Lärm und Auflauf und alle Nachbarn lobten des Mädchens Beherztheit.

Doch wie sollte man nun die Gelehrten aus dem Schlafe wecken? Da sagte eine Frau, welche mit den anderen herbeigelaufen war, man solle doch im Rauchfang nachsehen, dort hätte der Student zehn Lichtchen angezündet, und wenn er sie nicht selbst wieder auslöschte, müssten die zehn Gelehrten bis an ihr Lebensende schlafen.

Die Lichtchen fand man, aber wie sollte der tote Student sie auslöschen? Da war einer unter dem Volkshaufen, der wusste Rat. Man führte mit dem Leichnam des Bösewichtes solche Bewegungen aus, dass ein Licht nach dem andern dadurch ausgelöscht und somit auch ein Gelehrter nach dem anderen aus dem Schlafe geweckt wurde.