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Der Große Fisch
Tiermärchen


Einer der Ströme des Landes, der berühmte Lachsfluß, entsprang in einem kleinen, dunklen Bergsee, und sein Bett war von Gletscherarmen ausgeschürft worden. Wie alle diese Flüsse warf er sich ungestüm das Gebirge hinunter, durchzog breiter und nicht mehr so wild die Hügel des Vorlandes und strömte dann langsam und großartig dem Meer zu.

Die Lachswanderung hatte gerade begonnen. Ein glänzender Schwarm von Fischen kämpfte sich gegen das Wasser aufwärts - Gewalt gegen Gewalt. Sie schwammen gleichmäßig, unbeirrt und stetig gegen die langsame Strömung der Küstenebene, wo die Klarheit des Wassers von Tausenden winzigsten Schlammteilchen getrübt war. Als sie in den seichten Reusen eines verfallenen Wasserwerkes aufwärts kletterten, glichen die Lachse fliegenden Fischen. Wie durchsichtige, glitzernde Fgel sprühte das Wasser zu beiden Seiten der Fischkörper auf. Die Strömung wurde stärker und wilder, manchmal floss das Wasser klar und tief über große Steine, dann wieder brach es sich und schäumte weiß auf. Manchmal wirbelte der Fluss die Schottermassen vom Grund seines Bettes auf, und immer wieder sperrten Steinbarrieren ihren Weg, die sie überspringen mussten.

Unter all den vielen kleinen oder mäßig großen Lachsen war ein Fisch, größer als die anderen. und erfahren und ehrwürdig durch viele Wanderungen im Weltmeer. So groß war seine Gewandtheit, so gewaltig die Kraft seines geschmeidigen Flossenschwanzes, dass er jedes Hindernis mit einem einzigen Sprung nehmen konnte, wenn sich seine Gefährten mit vielen kleinen Sprüngen abmühen mussten. Nach diesen Proben seiner Stärke fanden ihn die anderen, wenn auch sie das Hindernis überwunden hatten, stets an einer tiefen, schattigen Stelle nahe dem Ufer, wo das Wasser fast ohne Strömung stand. Dort ruhte der mächtige Fisch, bewegungslos, und nur das fortwährende leise Zittern der Flossen bewies, dass Leben in ihm war.

Langsam wurde die Schar der vorwärtsdrängenden Fische kleiner und kleiner; ein Paar nach dem anderen beschloss, dass es weit genug gewandert sei, und wählte sein Gebiet. Sie ließen sich zum Grund hinuntersinken, pflügten Furchen in den Sand und in die Kieselsteine, und hier vollzog sich die geheimnisvolle Zeremonie der Lachshochzeit.

Der Zug der übriggebliebenen Fische erreichte zum Schluss jene Stelle, wo der Fluss sich in einer tiefen Schlucht den Berg herunterstürzte. Diese Schlucht wurde am oberen Ende von einem Wasserfall begrenzt. Fast in seiner ganzen Breite fiel der Fluss über eine steile, senkrechte Felswand, aus der nur einzelne Spitzen hervorragten, wo das Wasser aufgischtete wie wehende, weiße Rossschweife. Das stürzende Wasser hatte in jahrhundertelanger Mühe ein tiefes Becken am Fuß des Falles ausgegraben. Am linken Rand fiel die Felswand weniger steil ab, formte einige Stufen, von denen jede ihren kleinen Wasserfall und ihr kleines Becken hatte.

Die meisten Fische fanden dieses Hindernis unüberwindbar, einige kehrten um, andere zogen einen Nebenfluss hinauf. Doch ein Teil des Schwarmes war entschlossen, weiterzuwandern. Diese Fische wussten, dass jenseits des Falles die überschatteten Ufergründe reich an Futter und Nahrung waren. Sie begannen den Aufstieg am linken Rand, sprangen von Stufe zu Stufe, und obwohl sie oft von der reißenden Strömung zurückgerissen wurden, erreichten fast alle das ruhige, stille Gewässer oberhalb des Wasserfalles.

Nur der große Lachs versuchte den Aufstieg über die kleinen Fälle nicht. Vielleicht wusste er, dass er zu groß dafür war, vielleicht aber zwang ihn eine geheimnisvolle Macht, seine Kräfte mit der Gewalt des großen Wasserfalles zu messen. Mit einem einzigen Sprung müsste man diese senkrechte Wasserwand bezwingen, oder sie konnte nicht bezwungen werden.

Einen Abend und eine Nacht ruhte der Lachs im tiefen Wasser des Beckens. Er hatte sich jenen Platz gewählt, wo sich das niederfallende Wasser in der Tiefe brach, seinen prächtigen Körper streichelte und ihn sacht schaukelte.

Manchmal sprang er nach einer Fliege, und die weidenden Rinder am Ufer hörten in der Dämmerung und beim sanften Licht der Mondnacht ein weiches Glucksen, wenn der glatte Wasserspiegel getrübt wurde und sich weite Ringe über das Wasser zogen, die die Ruhe der Wasserpflanzen am Ufer des Beckens störten.

Kaum hatte der Morgen gedämmert, kam der Lachs zur Oberfläche des Wassers herauf, kreiste zwei- oder dreimal im Becken herum, bevor er seinen straffen, stählernen Körper bog und in die Luft sprang, eingehüllt in glitzernde Wassertropfen wie in einen Mantel flimmernder Goldmünzen. Der weiche und doch feste Fischkörper schlug auf den Stein, zwei Fuß unter jener Stelle, wo sich das Wasser über die Felsen stürzte. Nur ein fast nicht hörbarer, echoloser Laut folgte dem Aufprall eines nachgiebigen Körpers auf einen harten, dann fiel dieser silberglänzende Körper, gerade vorher noch stolz und zielbewusst, besiegt und seltsam grotesk zurück in das Becken. Wieder und wieder erfolgten diese fürchterlichen Sprünge. Bald waren die glatten Fischflanken zerschunden, und Blut sickerte unter den Silberschuppen hervor. Beides war gleichermaßen schrecklich, der dumpfe Niederprall und der sich aufschnellende und stürzende Körper. Nur mit Schrecken konnte man dieses Schauspiel miterleben: ein lebender Körper, der sich selbst auf dem gefühllosen, leblosen Antlitz der Felswand zerschmetterte. Zitternd flohen die anderen Fische bei jedem vergeblichen Versuch unter die Steine, und ihre kleinen Seelen füllten sich mit Scham vor der Leidenschaft ihres größeren Gefährten. Ja, Scham und Ehrfurcht erfüllten sie zu gleicher Zeit.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, bevor sich der Lachs in die Dunkelheit des tieferen Wassers hinabsinken ließ. Seine letzten Sprünge hatten den Rand des Wasserfalles fast zwei Meter verfehlt. Bei Sonnenuntergang begann der Kampf von neuern. Der Lachs machte zwei oder drei Sprünge, dann schien er Kraft zu sammeln. Er fegte wild über die Oberfläche des Beckens, jeder Schlag seines Schwanzes ließ einen Wirbel im Wasser zurück. Sein Körper schien sich zu spannen. Und dann, mit einem heftigen Aufschnellen warf er sich in die Höhe.

Er erreichte den Rand des Falles, einen flüchtigen Augenblick sah er jenes friedliche, von herabgefallenen Nadeln und dem Schatten der Bäume dunkle Wasser, das die niederhängenden Zweige sanft streichelten. Seine Flossen stemmten sich gegen die Gewalt des Wassers gerade an jenem Punkt, wo es sich über die Felskante stürzen wollte. So hing er Sekunden dort, während das Wasser einen Kranz aus weißem Gischt um seinen Kopf formte. Alle die kleineren Fische standen reglos im Wasser. Wünschten sie, dass ihr Gefährte siegte? Oder wünschten sie - vielleicht noch mehr - dass er besiegt wurde?

Es geschah nach ihrem Willen. Die Anstrengung war zu groß. Der Lachs konnte mit seinen Flossen keinen Halt finden, das unbarmherzige, unabänderlich strömende Wasser zog ihn zurück, er glitt über die Felswand, schlug auf eine der scharfen Felsspitzen und fiel hinab in das Becken. Der Körper versank, drehte sich um sich selbst. Es sah aus, als ob ein Riese seinen Löffel hinunter in das Becken geworfen hätte. Nach kurzer Zeit kam der Lachs wieder an die Oberfläche. Er trieb auf der Seite, die ganze Flanke tief aufgerissen. Die Felsspitze mochte das Rückgrat gebrochen haben, oder vielleicht auch war unter der riesenhaften Anstrengung das Herz des Fisches zersprungen.

Die Strömung erfasste den leblosen Körper und führte ihn abwärts. Er verfing sich an Steintrümmern, wurde weitergerissen, drehte sich, überschlug sich, ein totes, wehrloses Wrack. An einer Fluss Krümmung wurde es auf eine Felsplatte getrieben, und in ein paar Stunden hatten Krähen und Stare das Fleisch von den Gräten gepickt. Wie eine seltsame, weiße Feder blieb die gekrümmte Rückengräte auf dem Stein liegen.

Nicht mehr als ein paar Dutzend anderer Lachse hatten den Kampf
gesehen, den letzten Todessprung und den abwärts treibenden leblosen Körper. Doch schon nach kurzer Zeit erzählte man sich die Geschichte flussabwärts und flussaufwärts, und alle Fische fanden es unfassbar, was geschehen war. Als die Jahre vergingen, kannten alle Lachse weit und breit die Geschichte des Kampfes, und allen jungen Fischen wurde sie berichtet, bevor sie noch zwei Ringe auf ihren Schuppen hatten. Der große Fisch, der den großen Wasserfall herausgefordert hatte, erfüllte die Lachse mit Ehrfurcht und Staunen. Und wieder, nachdem Jahre vergangen und neue Generationen von Lachsen geboren waren, wurde der große Fisch in ihren Legenden riesenhaft, er soll goldene Flossen gehabt haben, Augen, die in der Dunkelheit rot brannten, und man schrieb ihm die Macht des süßesten Gesanges zu.

So wurde dieser Fisch ein unsterblicher Lachs.