Im Reich der Tiere

Es war einmal ein Specht, der wohnte sehr idyllisch am Rande einer großen Müllkippe. Hinter seiner geräumigen Wohnung im siebzehnten Stockwerk einer uralten Fichte begann der Wald und unter seinem Balkon, der aus zwei dicken Zweigen bestand, rauschte eine große Waldstraße dahin, auf der zur Rush Hour in der Morgen und Abenddämmerung die Rehe, Hasen und Hirsche, die Füchse, Dachse und Wiesel in den Wald rein und aus ihm herausflitzten, jeder auf seine Art die Brötchen zu verdienen. Ihr müsst wissen, dass die meisten Tiere im Wald Tagelöhner und zum Niedriglohntarif angestellt waren. Es gab hin und wieder auch ein paar Wichtigtuer, die es bis zur Ich-AG gebracht hatten und auf den schmalen, verbrauchsoptimierten Waldstraßen immer die Vorfahrt beanspruchten. Der Specht dachte sich sein Teil und schüttelte nur weise den Kopf, wenn sie da unten hetzten und drängelten. Sein Beruf als Zimmermann erschien ihm so krisenfest und alle waren froh, wenn er nach langem Zögern wieder mal eine Höhle in einen Baum klopfte. Nun, die Aufträge waren schon weniger geworden, dafür aber anspruchsvoller. Heute kamen diejenigen, die es sich leisten konnten, eine solide Höhle zu bauen, nicht mehr mit einem
einfachen Loch im Baum aus. Pikus, so hieß unser Waldspecht, war’s recht. Konnte er doch jetzt künstlerisch arbeiten. Nicht, dass er was anderes gemacht hätte als seine Vorgänger in dem Beruf, aber er tat es anders. Bei ihm war die Erstellung einer Mehrfamiliennisthöhle ein Projekt und wenn einer der Großen des Waldes, der zwielichtige Uhu etwa, oder der rote Milan, sich in den Kopf gesetzt hatten, eine Prunkwohnung zu brauchen, anstatt sich wie ihre Vorfahren auf einer Felsenspitze oder unter dem dichten Schopf eines alten Baums einzunisten, dann klopfte der Specht rhythmisch vor Freude auf seinen trockensten Ast, damit auch jeder hörte, dass er für die großen im Wald arbeitete. Und wenn er dann anfing, machte er keine Baustelleneröffnung, sondern einen Event, zu dem ein Singvogelorchester und der Eichhörnchencateringservice gerufen wurde.
Nun, zur Zeit machte er gerade Urlaub und begnügte sich damit in der Sonne zu sitzen, im Gasthaus zum toten Baum ein paar Madenshrimps zu naschen, oder einen besonders wirksamen Pilz anzuknabbern, damit es ihm mal wieder ganz rauschig wurde. Wenn er arbeitete, konnte er das nicht tun, weil das Hämmern in seinem Kopf eine konzentrierte Arbeit unmöglich machte.

Eines Tages saß nun Pikus vor seinem Eigenheim am Rande des Waldes und ließ den Blick über die sanften Abhänge der Müllkippe schweifen. In letzter Zeit hatte sich dort viel getan. Viele Jahre lang waren es die Möwen gewesen, die sie dominierten und einsteckten, was die Kippe an Gewinnen so abwarf. Pikus hatte sich an die vielen Schreihälse genauso gewöhnt, wie an die üblen Düfte, die der Wind an manchen Tagen herüberwehte. Neu war, dass immer mehr Krähen sich dort ansiedelten. Zunächst waren nur wenige gekommen, die anscheinend den Möwen halfen. Allerdings holten die Krähen ihre Familien nach, weil in den Dörfern wo sie vorher gut gelebt hatten, sich die Hygieneverhältnisse geändert hatten und der Bedarf für die Straßenreinigung nicht mehr von den Krähen ausgeübt werden konnte. Inzwischen war es dort so weit, dass die Krähen schon in der Überzahl waren und die Möwen sich ihre Hilfe immer widerwilliger gefallen ließen. Es gab dort öfter mal Raufereien zwischen den Schwarzen und den Weißen, wie sie sich gegenseitig nannten und Pikus beobachtete das und schüttelte verwundert den Kopf. Dann wandte er sich immer ab und sah nach, was auf der Straße unter seinem Haus los war. Er bewunderte die neueste Flamme des Rehbocks, der ihm verschwörerisch zuzwinkerte und seine Eroberung schnell ins Nobelrestaurant „Nachbars Garten“ führte, das rund um die Uhr geöffnet hatte und wenn Saison war, die zartesten Tulpenarrangements diesseits des Waldes anbot. Frühling war’s, die Tulpensaison hatte begonnen und die des Rehbocks natürlich auch. Die Tiere flanierten im warmen Licht der Abendsonne und Pikus blinzelte schon etwas schläfrig in den Sonnenuntergang, als nebenan ein lautes Krächzen und das Schreien vieler Möwen zu hören war. Jedenfalls war es lauter als üblich, sonst wäre es niemand aufgefallen. Seine Nachbarin, die Schleiereule kam vorbei und fragte ihn ob er wüsste, was dort los war, aber Pikus zuckte nur mit den Schultern und knabberte ein paar geröstete Madenshrimps. Dann sagte er gute Nacht und verkroch sich in sein schönes Bett. Am nächsten Morgen las er in der Wildzeitung davon, dass im benachbarten Industrierevier Unruhen ausgebrochen wären. er überlegte gerade, ob er schnell bei Frau Schleiereule vorbeigehen und ihr die Nachricht erzählen sollte, da kam sie schon angekeucht, ganz außer Atem und erzählte, dass es Mord und Totschlag gegeben habe auf der Müllkippe und Krieg zwischen den Krähen und den Möwen ausgebrochen sei und außerdem der Waldrat einberufen würde. Nachdem die Eule hastig davon gestürzt war um den anderen im Viertel noch bescheid zu geben, kratzte Pikus sich am Kopf. Das hieß, er müsste seine Festkleidung anlegen. Er ging zum Schrank und begutachtete die große schwarz-weiße Robe, die er sich nach seiner Meisterprüfung zugelegt hatte. Schließlich musste man als großer Buntspecht auch entsprechend gekleidet sein. Daneben hing noch die alte Gesellenmontur aus der Zeit als er noch kleiner Buntspecht war und ganz hinten im Schrank schimmerte das seidige Fähnchen aus seinen Grünspechtzeiten hervor. Nur nichts wegwerfen, hatte er sich immer gesagt, wer weiß wozu es noch gut ist. Da hatte er natürlich leicht reden, schließlich lebte er nicht zu fünft in einer Dreizimmerwohnung und wenn ihm der Platz zu eng wurde, hämmerte er sich einfach noch einen Schrank in die Wand seiner Wohnhöhle. Also nahm er sein neuestes Prachtgewand heraus, bügelte die Federn, ölte sie und legte es sich zurecht. Dazu wählte er die scharlachrote Mütze, oder war es Zinnoberrot? Egal auf jeden Fall die prächtige, die so gut zum schwarz-weiß seiner Robe passte. Geschafft! Er bestaunte sich noch mal im Spiegel und musste aufpassen, dass er sich nicht vor lauter Respekt vor seiner eigenen Person fürchtete. Dann trank er seinen Tee aus, griff sich noch einen Vorrat von seiner Lieblingsspeise, ja, genau, die Madenshrimps und machte sich auf den Weg. Als er so naschend durch den Wald schlenderte, fehlte ihm nur noch der Spazierstock und ein fröhlich gepfiffenes Lied auf den Lippen, aber das geht natürlich nicht, schließlich haben die Spechte in der Schule nur das Trommeln gelernt und sind gar keine guten Pfeifer und Lippen haben sie auch nicht. Die Tiere hatten als Versammlungsort eine Lichtung, die Plätze waren nummeriert. Das Parkett inklusive Verpflegung beanspruchten natürlich die Platzhirsche und ihr Anhang und auf ein paar Erdhaufen, die sie Loge nannten, saßen die Raubtiere. Die Königsloge war natürlich vorhanden, aber nicht besetzt, schließlich war man nicht nur demokratisch sondern auch traditionsbewusst. Außerdem gibt es in unserem Wald gar keine Löwen, die würden hier Rheuma kriegen. Es war eine prächtige Versammlung und fast alle waren da. Der Biber hatte vorsorglich den Jägerhochsitz abgeknabbert, damit kein Mensch die Versammlung stören konnte. Die erwiesen sich nur allzu oft als Terroristen und schossen dann wild um sich, obwohl es wichtiges zu besprechen gab, was die Existenz aller bedrohte. Deshalb wurden die Menschen auch nicht eingeladen und waren von jeglichem Amt im Tierreich ausgeschlossen. Wer noch fehlte waren die Krähen und die Möwen, die hatten im Moment keine Zeit, weil sie planen mussten, wie sie einander die Müllkippe abjagten. Denn darum drehte sich der Streit. Die Möwen, die eher da waren, beanspruchten die Müllkippe für sich und wollten die lästigen Helfer von einst wieder loswerden. Allerdings waren die Krähen inzwischen so viele geworden, dass sie selbstbewusst sagten sie seien genauso hier zuhause wie die Möwen und das stimmte ja auch denn von den ersten krähischen Einwanderern waren die meisten schon gestorben und fast alle Krähen waren im Lande, das heißt, auf der Müllkippe aufgewachsen und man konnte sie nur noch an ihrem anderen Federkleid unterscheiden, denn obwohl sie immer etwas heiser schienen, beherrschten sie die Landessprache genauso gut wie die Möwen, oder irgendwer in der Versammlung. Woher die Versammlung das alles wusste? Ganz einfach, es gab nämlich auf dieser Müllkippe noch mehr Tiere. Doch die waren so scheu und wurden von den Krähen genauso wie von den Möwen gejagt. Kein Wunder, dass sie nicht erschienen waren denkt ihr? Nein, sie hatten eine Abordnung geschickt. Die saß auf einem kleinen Hügel nahe des Podiums, den ihr eine nahe Verwandte aufgeschüttet hatte. Die Verwandte war eine Wühlmaus und die Abordnung bestand aus einer Maus, einer Ratte und einem Maulwurf, der als juristischer Berater dabei war und mit seiner schwarzen Robe in der Sonne glänzte. Ängstlich schielten sie auf die große Tanne am Lichtungsrand, denn dort saß der Uhu und seine Verwandtschaft und blickte zwar schläfrig, (der Uhu kam direkt von der Nachtschicht und hatte fürchterliche Laune) aber auch hungrig in die Gegend. Außerdem munkelte man, er wäre gar nicht so honorabel, wie er immer tat, im Gegenteil, wenn in den dunklen Gassen der Müllkippe ein paar arme kleine Mäuse verschwanden, nach denen in den schönen Wohnungen am Wald kein Hahn krähte, traf das merkwürdig oft mit der Nachtschicht des Uhus zusammen und dass er heute so mies drauf war, konnte auch daran liegen, dass er wegen der Kämpfe auf der Müllkippe keine Mäuse gemacht hatte. Was ihn natürlich ärgerte, schließlich will man sich ja nicht umsonst die Nacht um die Ohren schlagen. Die Mäuseabordnung berichtete nun in schrillen Tönen, dass, nachdem die Möwen ein paar Krähen überfallen hatten, letztere sich zusammenrotteten und die Möwen mit aller Macht angriffen. Deren letzte Rettung war es, sich in einem alten Auto zu verschanzen und zuzusehen wie die Krähen reihum ihre Nester zerstörten und grölend die Eier austranken, die die Möwen seit Wochen hüteten. Der Uhu sprang auf und unterbrach die Maus mit lauter Stimme: Was auf der Müllkippe passiert ist alleine Sache der Krähen und der Möwen und wir sollten uns dort nicht einmischen, sagte er und überhaupt klänge die Geschichte die diese Maus, die hier niemand kennt, erzählt, reichlich übertrieben. Solche Gräueltaten seien doch wohl Ammenmärchen und niemals würden Mitglieder im stand der Vögel so etwas fertig bringen. Dazu zitierte er einen Weisen, den keiner der Anwesenden kannte: Schließlich hackt doch eine Krähe der anderen kein Auge aus. Damit schloss er seine Rede und rollte noch einmal drohend mit den Augen in Richtung der Mäusetribüne. Die Maus piepste nur noch, dass sie jetzt fertig sei mit ihrer Rede und nichts mehr zu sagen habe. Daraufhin beantragte eine vom Uhu bezahlte Eule die rasche Abstimmung über das weitere Vorgehen der Versammlung und brachte den Vorschlag ein, die Lage an der Müllkippe zu beobachten und den Uhu, der ja Experte sei, zum Beobachter zu ernennen. Dieser Vorschlag wurde von der großen Mehrheit angenommen und die Versammlung löste sich auf. Der Uhu eilte mit seinen neuen Vollmachten zur Müllkippe und verhandelte mal mit den Möwen, mal mit den Krähen und hatte es nach kurzer Zeit geschafft, dass sowohl Möwen als auch Krähen ihn mit frischen Mäusen versorgten und er würde im Austausch dafür in der Versammlung zugunsten ihrer Seite sprechen. Der Krieg ging weiter, der Uhu ließ sich die Mäuse ins haus bringen, das Pinkus erweitern musste, weil der fett gewordene Uhu mehr Platz brauchte. Alle waren zufrieden, nur die Maus nicht, die auf der Versammlung gesprochen hatte, die war mausetot. Dafür hatte der Uhu gesorgt.


Dieses Märchen wurde mir von Egon Hauck ( egon.hauck@web.de ) zur Verfügung gestellt.
Das Copyright von diesem Märchen liegt ausschließlich bei Egon Hauck © 2006