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Rotkehlchen und Kohlmeischen
Ernst Moritz Arndt


Rotkehlchen und Kohlmeischen waren einst ein paar hübsche Dirnen, Töchter einer alten frommen  Witwe, die sich vom Spinnen, Nähen und Waschen und von anderer Arbeit knapp aber doch ehrlich ernährte. Sie hatte nur diese beiden Kinder, von welchen die älteste Gretchen und die jüngste Katrinchen hieß. Sie hielt, wie sauer es ihr auch ward, die Kinder immer nett und reinlich in Kleidung und schickte sie fleißig zu Kirche und Schule, und als sie größer wurden, unterwies sie sie in allerlei künstlicher Arbeit mit der Schere und Nadel und hielt sie still in ihrem Kämmerlein in aller Ehrbarkeit und Tugend. Und Gretchen und Katrinchen gediehen, dass es eine Freude war, und wurden ebenso hübsch und fein, als sie fleißig und ehrbar waren; so dass alle Menschen ihre Lust an ihnen hatten und die Nachbarn sie ihren Töchtern als rechte Muster zeigten und lobten. Die Witwe starb und die beiden Schwestern blieben in ihrem Häuschen und lebten, wie sie mit der Mutter bisher getan, von ihrer Hände Arbeit. Aber es blieb nicht lange mehr so still in dem Häuschen, als es sonst gewesen war. Die Falken und Habichte, welche auf schönes junges Blut lauren, merkten, dass die Hüterin weg war, welche die Täubchen sonst bewacht hatte, und es fanden sich häufig lose junge Gesellen ein, welche die Mädchen zu Tänzen und Gelagen und zu Spaziergängen auf die Dörfer verlocken wollten. Die beiden Schwestern wehrten sich einige Wochen tapfer, aber endlich ließen sie sich bewegen und gingen mit und dachten, es kann doch wohl keine Sünde sein, was so viele Frauen und Mädchen tun, die niemand unehrlich nennt. Zuerst kam es ihnen bei diesen Tänzen doch zu wild vor und sie sahen nicht einmal lange zu sondern gingen früh weg und waren vor Sonnenuntergang wieder zu Hause und ließen sich nicht bis in die Nacht hinein halten, wie viel die, welche sie mitgenommen hatten, auch locken mochten. Das zweite und dritte Mal tanzten sie schon mit, gingen aber bei Tage heim, und mit etwas schwerem Herzen, und nahmen sich deswegen vor, den nächsten Sonntag zu Hause zu bleiben. Aber das Worthalten war schwer, denn die jungen Gesellen kamen immer wieder und baten zu schön. Das vierte und fünfte Mal blieben sie schon bis nach Sonnenuntergang, und das sechste und siebente Mal hatte die Glocke zwölf geschlagen, als sie heim kamen, und sie mussten ihre Wirtin herauspochen, dass sie ihnen die Türe aufschlösse, und als die alte Frau sie ermahnte und sie ihrer seligen Mutter erinnerte, lachten sie schon und sprachen: Ach! die Mutter und ihr! wann die Mäuse keine Zähne mehr haben, schelten sie auf die Nussknacker; ihr werdet auch getanzt haben, als ihr jung wart.

Die Mädchen waren zu Hause noch immer sehr fleißig, auch hatten sie noch nichts Unehrbares getan noch gelitten, aber die Türe zum Bösen war geöffnet, und Leichtsinn und Leichtfertigkeit nahmen von Tage zu Tage zu, und nun ward auch schon mancher kostbare Wochentag mit Nichtstun und Herumprangen vertändelt und verquändelt, den sie sonst auf nützliche Arbeit verwendet hatten. Auch in ihrem Kämmerchen musste alles anders werden; die Vögel waren lustig und bunt geworden, es musste alles blankere und zierlichere Federn anziehen: neue Tische, neue Stühle, neue Vorhänge, feinere Kleider und Schuhe. Aber mit dem alten Hausrat schien auch der mütterliche Segen, der bisher sichtbar auf den Kindern geruht hatte, aus dem Hause gezogen zu sein. So schlich sich das Unglück mit dem Leichtsinn ein; erst hielt sie der Böse nur an einem dünnen seidenen Fädchen, zuletzt hat er sie mit einem dicken Kabeltau der Sünde umflochten und sie haben die Schwere und den Schmutz desselben gar nicht mehr gefühlt.

Gretchen und Katrinchen hatten immer viele schöne Arbeit und kostbare Zeuge unter Händen, woraus sie Schmuck und Kleider stickten und nähten. Sie gebrauchten jetzt mehr Geld als sonst, sie fingen allmählich an zu mausen, ach! sie stahlen zuletzt. Einmal hatten sie einen bunten seidenen Rock gestohlen, der in einem Nachbarhause am Fenster hing, und an einen herumziehenden Juden verkauft. Ein armer Schneidergesell, bei welchem man viele bunte Lappen und Streifen Zeug gefunden, die er auch wohl gemaust haben mochte, war darüber angeklagt, gerichtet und gehängt worden. Er hing und baumelte an dem lichten Galgen. Eines Abends spät kamen die beiden Dirnen mit andern Gesellen und Gesellinnen von einem Dorftanze zurück und der Weg ging an dem Galgen vorbei. Da rief einer aus der Schaar, ein leichtfertiger Gesell: Fritz Schneiderlein! Fritz Schneiderlein! wie teuer wird dir dein bunter Rock! Kaum aber hatte er das Wort gesprochen, so schlug die Sünde wie ein Blitz in die beiden Dirnen, die schuld waren an des armen Schneiders Tod. Sie stürzten beide wie tot zur Erde hin, und die andern, die es sahen, liefen voll Schrecken weg, als hätten ihnen alle Galgenvögel schon in dem Nacken gesessen. Sie haben die Geschichte in der Stadt erzählt, und die Leute sind hingegangen, aber die beiden Dirnen haben sie nimmer gefunden.

Und wie hätten sie sie finden sollen? Sie waren in Vögel verwandelt und müssen nun in der weiten Welt herumfliegen. Gretchen ist ein Rotkehlchen geworden und Katrinchen ein Kohlmeischen; denn Gretchen trug immer ein rotes seidenes Tuch um den Hals und Katrinchen ein gelbes. So müssen sie nun als kleine Vögel in den Wäldern rundfliegen und Hunger und Durst leiden, Hitze und Kälte aushalten und vor Sperbern und Falken, vor Schlangen und Ottern, vor Jägern und wilden Buben zittern. Das hatte ihre Mutter wohl nicht gedacht, als sie so sittig und fein mit ihr in dem Kämmerlein saßen und stickten und webten und näheren und Abends und Morgens bei dein Zubettgehen und Aufstehen mit heller Stimme geistliche Lieder sangen. Aber die armen Kinder sind zuerst verlockt dann verführt und so endlich in schwere Sünden gefallen, und haben kaum gewusst, wie sie dazu gekommen sind: so leise und sanft hat der Leichtsinn sie seinen Schlangenblumenweg geführt. dass diese kleinen Vögel einst Menschen gewesen, ist ganz natürlich, und man kann es auch daraus sehen, dass sie immer um die Häuser der Menschen fliegen, auch oft durch die offenen Fenster in die Zimmer kommen und sich da fangen lassen, auch dass sie im Walde, so wie sich nur Menschen da sehen lassen, sogleich um sie herumflattern und herumzwitschern. Sie haben auch die alte Unart im Vogelkleide noch nicht abgelegt und können das Mausen nicht lassen sondern sind noch immer Erzdiebe, und wo nur etwas Buntes und Neues und Schimmerndes ausgehängt wird, da fliegen und schnappen sie darnach, und werden daher keine Vögel leichter in Fallen und Schlingen gefangen als diese beiden, und müssen Gretchens und Kathrinchen gefederte Urenkel es noch entgelten, dass sie einst zu viel auf Kirmisse und Tänze gegangen und den bunten Rock gestohlen haben, worum der Schneider hangen musste. Die Menschen jammert es sehr, wann sie Rotkehlchen und Kohlmeischen in den Schlingen hangen sehen, und sie rufen wohl: ach! die armen niedlichen Vögelein! Denn sie sind wirklich sehr niedlich und hübsch, und waren einst auch niedliche und hübsche Dirnen, ehe sie von bösen Buben verführt wurden, und lebten als fromme einfältige Kinder und meinten und wussten nichts Arges.

Aus dieser Geschichte lernt man, dass es wohl wahr ist, was weise Leute sagen, dass mancher einen bunten Rock trägt, worin ihm nicht wohl ist, und dass manche bunte Röcke tragen, wozu sie nicht gut gekommen sind.