Der Schneckenmann
Indianisches Osagenmärchen

An den Ufern des großen Flusses, den die Indianer den Missouri nennen, lebte einmal eine Schnecke. Niemand weiß, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, aber es ist sehr, sehr lange her. Eines Tages begann der Fluss über seine Ufer zu treten und alles umliegende Land zu überschwemmen. Die Schnecke klammerte sich an ein Stück Treibholz, und eine Welle trug beide davon.

Tagelang schwamm das Holzstück den Fluss hinunter, aber schließlich verlief sich die Flut, und die Schnecke fand sich mit einem Male auf dem Trockenen, mitten zwischen Schlamm und Unrat. Bald darauf kam die Sonne hinter den Wolken hervor, der Schlamm begann zu trocknen, und ehe die Schnecke es sich versah, saß sie so fest im Schlamm, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Es wurde schrecklich warm, und die Schnecke dachte, dass sie nun sterben müsste. Plötzlich jedoch kam eine Veränderung über sie; das Schneckenhaus zerbrach, und die kleine Schnecke begann unheimlich zu wachsen. Schließlich stand dort im Schlamm ein seltsames Wesen, wie es die Erde vordem noch nicht gesehen hatte. Es stand auf zwei Beinen, hatte zwei Arme mit Händen und Fingern, und außer ein paar Haaren auf dem Kopf war es völlig nackt. Es tat ein paar Schritte, aber es konnte sich nicht zurechtfinden. Eine ganze Weile dauerte es, bevor Was-bas-has, der Schneckenmann, sich daran erinnerte, woher er gekommen war. Darauf beschieß er, die Stelle zu suchen, von der ihn die Flut fortgetragen hatte.

Nicht lange danach verspürte Was-bas-has großen Hunger, aber er wusste sich keinen Rat. Wohl gab es Vögel und allerlei Wild, aber der Schneckenmann wusste noch nicht, dass man diese essen konnte. Er wünschte sich zurück in sein Schneckenhaus, denn als Schnecke hatte er niemals zu hungern brauchen. Am Ende fühlte er sich so elend, dass er sich zu Boden fallen ließ, um zu sterben. Er hatte eine kurze Zeit im Gras gelegen, als er eine Stimme hörte: „Was-bas-has! Was-bas-has!“ Der Schneckenmann sah auf und gewahrte vor sich den Großen Geist auf einem weißen Pferde. Wie Sterne leuchteten seine Augen, die Adlerfeder im Haar blitzte in der Sonne, und die Spitze der Büffellanze schien wie blankes Silber, Was-bas-has schlug die Augen geblendet nieder und zitterte am ganzen Körper. Wieder hörte er die Stimme Manitus: „Warum zitterst du?“

„Ich fürchte mich vor dem, der mich geschaffen hat. Ich bin müde und hungrig, denn ich weiß nicht, wie ich mich ernähren soll.“

Der Große Geist hob die Hand und deutete auf Pfeil und Bogen, die er auf dem Rücken trug. „Sieh her“, sagte er, „siehst du dort auf der Zeder den Vogel?“ Bei diesen Worten schoss er einen Pfeil ab, und der Vogel fiel tot zur Erde. Mit einem zweiten Pfeile erlegte er einen Hirsch. „Dies soll fortan deine Nahrung sein, und hier sind deine Waffen.“ Gleichzeitig gab er Was-bas-has Pfeil und Bogen. „Du bist nackt und hast keine Kleider. Das Kleid der Hirsche soll dich von nun an warm halten, denn der Himmel wird nicht immer so blau sein. Wolken werden kommen und Regen und Schnee bringen,“ Zögernd nahm der Schneckenmann den Bogen und die Pfeile in die Hand. Darauf legte der Große Geist ihm eine Halskette aus Wampumperlen um den Hals und sprach: „Dies ist das Zeichen deiner Herrschaft. Von nun an sollst du über die Tiere des Waldes und der Prärie herrschen wie ein Häuptling. Wenn aber die Büffelherden und Hirschrudel nicht mehr sein werden, dann ist auch deine Herrschaft zu Ende.“

Was-bas-has stand voller Staunen und wusste nicht, wie ihm geschah. Der Große Geist aber fuhr fort: „Als Herr über die Erde gebe ich dir das Feuer. Von nun an sollst du deine Beute nicht mehr roh verzehren. Sei wachsam, denn das Feuer kann auch dir gefährlich werden.“

Dann sah Was-bas-has, wie sich Pferd und Reiter in die Lüfte erhoben und in den aufziehenden Wolken verschwanden. Aber noch lange sah er durch die Wolken die Spitze der Büffellanze blitzen.

Der Schneckenmann stärkte sich an der erlegten Beute. Dann machte er sich wieder auf den Weg, um die Stelle am Flussufer zu suchen, woher er einst gekommen war, Als er am Ufer saß und über sein Erlebnis nachdachte, tauchte plötzlich vor ihm aus dem Wasser ein großer Biber auf und sprach: „Wer bist du? Was willst du in meinen Jagdgründen? Dies ist das Land der Biber, ich aber bin der Häuptling aller Biber dieses Flusses. Seit uralten Zeiten wandert unser Stamm jedes Jahr den Fluss hinauf und hinab. Wir sind fleißige Leute und wollen in Ruhe unsere Arbeit verrichten.“

„Du wirst fortan deine Herrschaft mit mir teilen müssen“, sprach Was-bas-has, „denn der Große Geist hat mich zum Häuptling aller Tiere des Waldes und der Prärie gemacht. So will ich auch über die Biber herrschen.“

„Wer aber bist du?“ fragte der Biber, „so etwas wie dich habe ich noch nie gesehen.“

„Ich bin Was-bas-has und bin aus einem Schneckenhaus gekommen. Jetzt aber bin ich ein Mensch. Hier sind die Zeichen meines Amtes.“ Dabei hielt er Pfeil und Bogen in der rechten Hand und einen Feuerbrand in der linken.

„Komm mit zu mir“, sagte der Biber, „wir müssen Brüder werden. Komm zu meinem Lager und erhole dich von der langen Reise.“ Unbeholfen kletterte der Biber aus dem Wasser und machte sich auf den Weg zu seinem Tipi. Was-bas-has, der Schneckenmann, folgte ihm, denn er hatte ja kein Ziel als den Fluss.

Kurze Zeit später kamen beide bei dem Lager der Biber an. Gemeinsam betraten sie die Wohnung des Häuptlings. Überall lagen weiche Grasmatten auf dem Boden, und alles sah warm und gemütlich aus. Während die Frauen eine Mahlzeit bereiteten, bat der Häuptling seinen Gast, doch für immer bei ihm zu bleiben, denn er sah wohl, welch ein bedeutendes Wesen er da durch Zufall am Flussufer gefunden hatte. So blieb Was-bas-has bei den Bibern, lernte von ihnen die Kunst, ein Tipi zu bauen, Bäume zu fällen, Vorräte anzulegen für die langen Wintermonate, Fische zu fangen und viele andere nützliche Dinge. Schließlich heiratete er die Tochter des Häuptlings der Biber. Ein großes Fest wurde aus diesem Anlass gefeiert, und alle Tiere, die mit den Bibern befreundet waren, wurden eingeladen. Schneckenmann und Bibermädchen aber waren die Urahnen eines großen Stammes, der Osage-Indianer.