Der Schneider und die Sintflut
Märchen aus Schwaben

Als vor langer Zeit die große Flut über die Welt hereinbrach und alles, was auf Erden lebte, jämmerlich hätte umkommen müssen, nahm sich Gott aus Mitleid seiner Geschöpfe an und bedachte, wie er wenigstens ein kleines Häuflein vor dem Tode des Ertrinkens retten könnte.

Er ließ einen kunstreichen Zimmermann zu sich rufen und sprach: »Baue ein großes Schiff, teile es klug in viele Stockwerke und Räume und bringe darin von allen Tieren der Erde, der Luft und des Wassers je ein Paar unter. Auch einem jungen und fleißigen Bauernpaar gib Herberge in der Arche, und nimm auch dazu von jedem Handwerk einen Meister und eine rechtschaffene Meisterin. Nur keinen Schneider! Hörst du? ja keinen Schneider! Diese Besserwisser und Siebenmalklugen, die den ganzen Tag auf ihrem Tisch hocken, meckern und tüfteln und spintisieren und selbst mir, dem Herrgott, ins Handwerk pfuschen, die will ich allesamt im Meer ersaufen lassen! Hast du mich verstanden?«

»Glaub's wohl, Herr!« antwortete der Zimmermann und ging alsbald an die Arbeit.

Nach kurzer Zeit war die Arche fertig. Pferd und Kuh, Ziege und Schwein, Katze und Hund, Hase, Fuchs und Reh, Vögel und Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Mücken und Käfer, Frösche, Kröten und Fische waren in den großen Kasten eingezogen. Auch Bauer, Wagner, Schreiner, Maurer, Schlosser und Schmied, Müller, Bäcker und Schuhmacher waren samt Weib und Handwerkszeug in den vielen Kammern und Stuben untergekommen.

Ohne dass es aber der Zimmermann merkte, hatte, sich in dem Gewusel und Gedränge auch ein fadendünner Schneider eingeschlichen und unterm Bett der Frau Zimmermeisterin versteckt. Da saß er nun Tag und Nacht hungrig und durstig in der dunklen Ecke und durfte kaum schnaufen und sich regen, wenn er nicht entdeckt und ohne Erbarmen ins tiefe Wasser geworfen werden wollte. Darüber wurde er immer ärgerlicher, sann auf Rache und heckte in sieben Tagen einen böswilligen Streich aus: Er fing Flöhe, Wanzen, Bienen, Hummeln und Wespen, zwickte einen Haufen Stecknadeln ab und setzte sie ihnen als spitze Stacheln ins Hinterteil ein.

Voller Schadenfreude ließ er sie hüpfen und davonfliegen, kicherte tückisch vor sich hin und sagte: »So, nun könnt ihr ans Werk gehen! jetzt wird's bald was zu jucken und zu zucken geben in dieser langweiligen Kiste!«

Und wahrhaftig, über eine kleine Welle ging es an allen Ecken und Enden des Schiffes zu, als ob der leibhaftige Teufel losgelassen wäre. Der erste Floh stach die Frau des Zimmermanns so gewaltig in den Schenkel, dass sie ein Wehgeschrei ausstieß, als ob sie am Messer steckte. Der zweite zwickte den Meister selbst in die Wade, und die Wespen und Bienen quälten die Tiere, dass sie wie toll umherrannten und sich nicht zu helfen wussten. In der Nacht aber ließen die Wanzen keinen Menschen zur Ruhe kommen.

»Wer hat diesen Viechern die Nadeln eingesetzt?« riefen Müllerin und Bäckersfrau.

»Das kann niemand anders gewesen sein als ein Schneider!« meinte der Schuhmacher.

»Ist ja gar keiner da!« brummte der Zimmermann.

»Einen Schneider durfte ich ja auf des Herrgotts ausdrücklichen Befehl gar nicht hereinlassen!«

»Eben drum! Dann hat sich halt einer eingeschlichen, durchs Schlüsselloch wahrscheinlich!« sagte lachend der Bauer.

Also durchsuchten sie miteinander das ganze Schiff und fanden den Schneider endlich unterm Bett der Frau Zimmermeisterin, wo er sich in der dunkelsten Ecke hinter einem Spinngewebe verborgen hatte.

»Hinaus mit ihm! Hinaus mit ihm!« riefen alle, die schon von den Flöhen und Wanzen gezwickt oder von den Wespen und Bienen gestochen worden waren.

Und dann warfen sie den Sünder Hals über Kopf ins Wasser. 0 weh, wie der arme Schneider schrie und zappelte und schnappte! Er hätte elendiglich ersaufen müssen, wenn nicht zu seinem Glück eine langbeinige Wasserspinne gerade in der Nähe gewesen wäre.

»Du kommst wie gerufen!« sagte das Schneiderlein, schwang sich flink auf ihren Rücken und ritt nun auf ihr so lange auf dem Meer herum, bis die große Flut sich verlaufen hatte und die Erde wieder trocken geworden war.

Wäre der arme Schneider damals nicht gerettet worden, so müssten wir noch heutigen Tags ohne Kleider umhergehen.