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Rudi der kleine Weihnachtsengel


Der kleine Rudi ist eigentlich gar kein richtiger Weihnachtsengel, aber er möchte so gern einer sein. Er möchte die Kinder sehen, von denen die großen Engel immer erzählen, und er möchte ihnen auch etwas bringen dürfen! Darum stellt er sich schnell zu den Weihnachtsengeln, wie das Christkind, wieder einmal alle zu sich ruft, weil der Heilige Abend gekommen ist. "Nein, du gehörst nicht zu uns", sagt der große schöne Engel Gabriel, der jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit dem Christkind zur Erde wandert, "geh schön zurück in die Engel-Kinderstube." Der kleine Rudi guckt herum, ob ihm vielleicht jemand hilft, doch alle Engel sagen das gleiche: "Geh schön zurück -du gehörst nicht zu uns." Da will; er traurig davongehen, denn kleine Engel sind sehr folgsam, aber auf einmal nimmt ihn das Christkind an der Hand und sagt freundlich: "Lasst ihn nur mit­kommen -niemand soll zur Weihnachtszeit traurig sein. Und so geschieht es, dass der kleine Rudi mit dem Christkind und den Weihnachts-Engeln auf die Erde zu den Menschen kommt. Er darf einen Sack tragen, in dem Kerzen sind, und darüber freut er sich natürlich sehr. "Gib auf die Kerzen gut Acht, damit du keine verlierst", sagt der große schöne Engel Gabriel, "das Christkind braucht sie für die Menschen. Und bleib' immer bei uns, sonst verirrst du dich auf der Erde." Der Rudi verspricht alles und drückt den Sack mit den Kerzen fest an sich. Oh, er ist ja so stolz darauf, dass er dem Christkind helfen darf! Aber er ist auch sehr neugierig, und darum guckt er bei jedem Fenster, an dem sie vorüber kommen, hinein. Ja, und dabei bleibt er natürlich immer mehr und mehr hinter den anderen Engeln zurück, die sich beeilen, weil die Kinder schon überall auf das Christkind warten. Zuerst kommt es ja immer zu den Kindern, und dann erst zu den großen Leuten, die keine Kinder haben. Der kleine Engel aber merkt es nicht, dass er zurückbleibt, denn da drinnen hinter den Fenstern gibt es so viel für ihn zu sehen. Da eine Katze, die beim warmen Ofen sitzt und sich mit den Pfoten das Gesicht wäscht, dort eine Frau, die gerade einen großen Kuchen auseinander schneidet, beim nächsten Fenster wieder ein schönes Bild, das mit Tannenzweigen geschmückt ist -ach, er weiß gar nicht, wohin er zuerst schauen soll Es gefällt ihm in den Wohnungen der Menschen, weil so viele hübsche Dinge drinnen sind. Am besten aber gefallen ihm die Lichter, die überall brennen. Zuerst meint er, das wären Sterne, so wie oben am Himmel, aber dann sieht er, dass es Lampen sind, die so hell leuchten. Wie er nun so von einem Haus zum anderen huscht und bei allen Fenstern ein bisschen hineinguckt, entdeckt er auf einmal eines, hinter dem es dunkel ist. Wohnt hier niemand? denkt er verwundert und drückt sein Näschen an die Scheiben. Engel können ja im Dunkeln sehen! Der kleine Rudi sieht auch gleich, dass da drinnen eine alte Frau sitzt und weint. Sie weint, weil sie ganz allein ist und weil sich heute am Weihnachtsabend niemand um sie kümmert. Rudi möchte ihr etwas schenken, damit sie sich freut und nicht mehr weint. Aber er hat ja nichts. Doch, etwas kann er der alten Frau schenken -eine Kerze! Es sind ja so viele drinnen im Sack, den er trägt -das Christkind wird sicher nicht böse sein, wenn er eine davon nimmt. Schnell schlüpft er in das Zimmer, holt eine Kerze aus dem Sack und stellt sie vor die alte Frau hin. Mit einem Sternchen, das er vom Himmel als Laterne mitgenommen hat, zündet er die Kerze an und dann bleibt er ganz still sitzen und wartet. Auf einmal nimmt die alte Frau ihre Hände vom Gesicht und schaut erstaunt auf das Licht. Ob sie den kleinen Engel auch sieht? Nein, die Engel können wir Menschen ja nicht sehen. Nur spüren können wir es manchmal, wenn einer da ist, in unserer Nähe. Die alte Frau spürt es jetzt auch. Sie wischt sich die Tränen ab und ist plötzlich gar nicht mehr traurig. "Ein Weihnachtslicht", sagt sie leise und froh, "ein Weihnachtslicht -wenn mich auch die Menschen alle vergessen haben, das Christkind vergisst mich nicht." Der kleine Rudi freut sich, als er sieht, dass sie nicht mehr weint. Zufrieden schlüpft er aus dem Fenster und huscht zum nächsten Haus. Und da entdeckt er gleich wieder einen traurigen Menschen. Es ist ein krankes Mädchen, das sehr, sehr traurig ist, weil es heute am Weihnachtsabend nicht daheim sein kann bei Vater und Mutter und bei den Geschwistern. Es liegt nämlich in einem Spital. Vielleicht freut sich das Mädchen auch, wenn ich ihm ein Weihnachtslicht schenke, denkt der kleine Engel, und husch, ist er schon drinnen im Kranken­zimmer. Er nimmt wieder eine Kerze aus dem Sack, zündet sie mit seinem Sternchen an und stellt sie auf das Nachtkästchen neben dem Bett. Das kranke Mädchen freut sich genau so wie die alte Frau über das Licht, das es nun auf einmal sieht. Das Christkind kommt, denkt es glücklich, es kommt auch zu mir. Der kleine Engel aber ist schon wieder unterwegs. Nun guckt er noch eifriger in alle Fenster. Ist da vielleicht noch jemand traurig? Er möchte allen traurigen Menschen ein Weihnachtslicht schenken, damit sie sich wieder freuen können. Er muss nicht lange suchen -gleich in der nächsten Straße sieht er hinter einem vergitterten Fenster einen Mann, der böse und finster dreinschaut. Der Mann ist zornig, weil man ihn eingesperrt hat, aber der kleine Engel merkt, dass er auch sehr traurig ist. Ja, der Mann hat etwas gestohlen -wer stiehlt, ist ein Dieb, und Diebe werden von der Polizei eingesperrt. Der Rudi schaut durch das Gitter und denkt: nein, wenn er auch traurig ist, der Mann, der kriegt kein Weihnachtslicht -geschieht ihm ganz recht, dass er eingesperrt ist, warum hat er gestohlen! Und husch, fliegt er weiter. Doch auf einmal fällt ihm ein, was das Christkind gesagt hat -niemand soll zur Weihnachtszeit traurig sein" -und da kehrt er schnell wieder um und bringt dem Mann im Gefängnis auch ein Weihnachtslicht. Der merkt zuerst gar nichts, er läuft in der Gefängniszelle hin und her und ist auf alle Menschen böse. Nachdem das Licht aber schon eine Weile brennt, spürt er die Wärme, die es ausstrahlt -bis zu seinem Herzen spürt er sie. Was ist das? denkt er verwundert und bleibt stehen. Auf einmal ist er gar nicht mehr zornig, und weil er nicht mehr zornig ist, kann er nun das Weihnachtslicht nicht nur spüren, sondern auch sehen. Und wie er es sieht, da schämt er sich plötzlich, dass er ein Dieb geworden ist. "Heute ist Weihnacht", flüstert er, "und ich sitze im Gefängnis -oh, verzeih mir, liebes Christkind! Ich werde nie mehr stehlen, ich will wieder ein ehrlicher Mensch werden." ­Ja, und so macht der kleine Rudi noch viele Menschen, die allein und traurig sind, an diesem Weihnachtsabend wieder froh und gut. Alle spüren es, dass ein Engel in ihrer Nähe ist, und alle denken an das Christkind, wenn sie in das Weihnachtslicht schauen, das er ihnen schenkt. Voll Freude darüber wandert Rudi von Haus zu Haus, bis ans Ende der Stadt. Auf einmal sind keine Häuser mehr da, nur verschneite Wiesen und Felder, und nun merkt er erst, dass er ja ganz allein ist. Wo ist das Christkind? Und wo sind die anderen Engel an? Er sucht sie überall, aber er kann sie nicht finden. Er sieht die brennenden Kerzen der Christbäume hinter den Fenstern und hört die Kinder jubeln, und da denkt er, wahrscheinlich ist das Christkind schon in der nächsten Stadt -ich muss mich beeilen, dass ich auch dorthin komme, vielleicht hat es keine Kerzen mehr und braucht schon die, die ich hier im Sack habe. Ich werde mich jetzt nirgends mehr aufhalten, nimmt sich der kleine Rudi ganz fest vor, erst wenn ich beim Christkind bin, gucke ich wieder in die Fenster. Weit draußen vor der Stadt, in der Nähe eines Waldes, liegt ein Bauernhaus. Und da bleibt der kleine Engel halt doch wieder stehen. Nur ein bisschen will er hineinschauen. Vielleicht ist das Christkind gerade drinnen? Das wäre schön, wenn er es hier schon finden würde! Nein, es ist nicht da. -Kinder haben sie auch keine da drinnen -ganz still ist es überall. Der Bauer sitzt in der warmen Stube beim Tisch und liest in einem dicken Buch, und die Bäuerin steht in der Küche beim Herd und rührt in einem Topf. Hm, hier riecht es gut nach gebratenem Fleisch. Der große Hund, der im Hof an einer Kette hängt, riecht das auch und winselt leise. Er hat Hunger, aber seine Futterschüssel ist leer, und niemand tut ihm etwas hinein. Der Hund ist ganz mager, weil er so wenig zu fressen bekommt, und darum ist ihm auch sehr kalt. Er liegt in seiner Hütte und zittert vor Kälte. Manchmal kriecht er heraus und will ein bisschen herumlaufen, um sich zu erwärmen und zu schauen, ob nicht irgendwo ein Knochen liegt, aber die Kette, an der er hängt, ist so kurz, dass er nur ein paar Schritte hin-und hergehen kann. Und so kriecht er wieder hinein in seine alte Hütte, durch die der kalte Wind bläst, legt den Kopf auf die Pfoten und winselt wieder leise. Die Frau und der Mann im Haus hören das Winseln, aber sie achten nicht darauf. Sie haben kein Mitleid mit ihrem Hund -sie sind geizig und hartherzig. Das sind böse Menschen, denkt der kleine Rudi. Er kniet zu der Hundehütte hin und streichelt dem armen Tier das struppige Fell. Der Hund hört zu winseln auf und hält ganz still. "Warte", sagt Rudi, "ich schenke dir auch ein Weihnachtslicht -es wird dich wärmen" Er greift in seinen Sack und erschrickt furchtbar -oh, da ist ja keine einzige Kerze mehr drinnen. Rudi dreht den Sack um und schüttelt ihn aus ja, es stimmt, der Sack ist leer. . . Ganz verzweifelt kniet der kleine Engel neben der Hundehütte und große Tränen kugeln über seine Wangen. Nun hat er alle Kerzen verschenkt -das Christkind wird schrecklich böse sein auf ihn! Nein, jetzt getraut er sich nicht mehr zu den Weihnachtsengeln und zum Christkind. Er legt seinen Kopf auf das struppige Fell des armen Hundes und schluchzt: "Ich bleib' bei dir..." Der Hund leckt ihm mit seiner großen warmen Zunge die Füßchen -das heißt: "Bleib' nur da, ich hab' dich lieb" -und dann rückt er zur Seite, damit der kleine traurige Engel Platz hat in seiner Hütte. Ja, der kleine Rudi glaubt, er dürfe jetzt nie mehr zurück in den Himmel, weil er alle Kerzen verschenkt hat. Das Christkind aber weiß es schon längst -es sieht und hört ja alles -, und wie die Weihnachtsengel auf einmal durcheinander rufen: "Unser Rudi ist verschwunden! -Wo ist der kleine Rudi? -Wir haben den Rudi verloren!", da lächelt es nur und sagt: "Kommt, wir holen ihn." Es weiß natürlich auch ganz genau, wo er ist, und bald stehen sie in dem großen dunklen Hof des Bauernhauses, vor der Hundehütte. Die Kühe im Stall spüren, dass das Christkind in der Nähe ist, und sagen leise und freundlich: "Muh, muh." Der Hund spürt es auch -er wedelt glücklich mit dem buschigen Schwanz, und seine großen Augen leuchten vor Freude. Aufstehen kann er nicht, denn der Rudi schläft ja neben ihm und hat den Kopf auf seinem Rücken liegen. Müde vom Weinen ist der kleine Engel eingeschlafen. Vor der Hundehütte liegt der leere Sack. "Oh", ruft einer der großen Engel, "er hat alle Kerzen verloren!" "Nein", sagt das Christkind, "er hat sie nicht verloren. Er hat sie verschenkt, und das war recht so. Er hat heute vielen armen Menschen ein Weihnachtslicht gebracht. Er hat ein gutes Herz und darum darf er von nun an jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit uns auf die Erde kommen." Der kleine Rudi hört es nicht, er schläft weiter, und da nimmt ihn der große schöne Engel Gabriel auf seine Arme und trägt ihn hinauf in den Himmel, dass er sich dort ausruhen kann von seiner ersten Erdenwanderung. Das Christkind aber klopft an das Bauernhaus. Die Frau und der Mann hören es und denken plötzlich an den armen Hund draußen in der Kälte. Der Mann steht auf und holt das Tier in die warme Stube hinein, und dann sagen sie beide: "Er soll es von nun an immer gut bei uns haben." Still und zufrieden geht das Christkind fort -weiter von Haus zu Haus, zu allen Menschen.


Dieses Märchen wurde mir von Johann Püller zur Verfügung gestellt.