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Der Leiermann


Als meine Großmutter noch ein kleines Mädchen war, zog er durch die Stadt. Aus seinem schwarzen, verwitterten Kasten tönte eine so schöne Musik, dass die Menschen den Atem anhielten. Sie öffneten die Fenster und sahen hinaus, die Kinder fassten sich an den Händen und tanzten, alle wurden sehr fröhlich. Aber eines Tages geschah etwas Furchtbares. Da wollte der alte Mann auch wieder seine schöne Musik machen, aber es gelang ihm nicht. Er drehte und drehte, kein Ton kam heraus. Was sollte er machen? Er wurde traurig. Er setzte sich an den Straßenrand und weinte. Da öffnete sich die Erde, und ein kleines Männlein mit einer roten Zipfelmütze auf dem Kopf sprang heraus. "Du meine Güte", rief es", so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen, da sitzt ein alter Mann und weint." "Ich habe wohl Grund dazu", sagte der Mann ",ich hatte so einen schönen Leierkasten, der war noch von meinem Urgroßvater, aber wenn ich jetzt daran drehe, kommt kein Ton mehr heraus." "Das ist doch nicht schlimm", sagte das Männlein", das werden wir gleich haben!" Es stellte sich vor den Kasten hin, breitete die Arme weit auseinander und flüsterte:

Komm heraus, du feiner Ton,
du kleines Ding,
komm her und spring
ins Menschenherz,
flieg himmelwärts.
O, sei bereit für Seligkeit,
für Tränenzeit,
für Herzeleid
und fall hinab
ins tiefe Grab
und weck sie mir,
die Toten hier,
die Bösen und die Braven,
dass sie sich nicht verschlafen!"

"So, nun ist die Musik wieder in dem Kasten", sagte das Männlein, "versuche es nur!" "O, ich danke dir!" rief der alte Mann. Aber dann wurde er ängstlich, er legte die Hände in den Schoß. "Aber du machst es bestimmt nicht umsonst", sagte er leise. "Da hast du recht", erwiderte das Männlein. "Ich habe gesehen, du hast so eine schöne schwarze Samtmütze, die möchte ich haben!" "Nein, nein, die bekommst du nicht", rief der alte Mann, "die Mütze habe ich von meiner Mutter bekommen, die hat sie auch von ihrer Mutter bekommen, und das geht immer so weiter. Von einem Andenken kann man sich nicht trennen!" "Ja, das verstehe ich", sagte das Männlein, "ich denke mir etwas anderes aus." Dann bekomme ich eben das, was zuerst in die Mütze hineingeworfen wird!" "Ja, da könntest du aber Pech haben", meinte der alte Mann ",es gibt böse Buben, die werfen Knöpfe in die Mütze. Und morgen gehe ich auf den Lindenplatz, da sind so viele Maikäfer in den Bäumen, wenn nun ein solcher Käfer zuerst in die Mütze fällt?" "Ach, papperlapapp", sagte das Männlein", das erste, was in der Mütze liegt, ist für mich, und wenn es eine Laus ist!" "Du sollst deinen Willen haben", sprach der Mann, und am nächsten Morgen ging er auf den Lindenplatz. "Hört doch", sagten die Leute zueinander ",welch eine Musik, welch ein Klang, das sind wohl die Geigen des Himmels!" Und sie liefen hinaus, um den Leiermann zu sehen. Nun stand auch eine junge Frau auf dem Platz, die hatte einen kleinen Jungen auf dern Arm, und der war sehr böse. Er zappelte hin, er zappelte her. "Wenn du jetzt nicht ruhig bist", sagte die Frau, "dann schlage ich dich, dass alle Leute es sehen!" "Ach", dachte der kleine Junge" ,das tut sie ja doch nicht." Und er fing an zu schreien. Die Frau wurde sehr traurig. Seht, sie war vom anderen Ende der Stadt hergekommen, um die Musik zu hören. Nun verdarb der Junge ihr die ganze Freude. "Wenn du aber jetzt nicht ruhig bist", sagte sie noch einmal ",so setze ich dich oben auf den Leierkasten, und dann nimmt der alte Mann dich mit."
"Ach, das tut sie gar nicht", dachte der Junge und schrie noch lauter. Aber nun war es mit der Geduld der Frau zu Ende. Sie ging auf den Kasten zu und setzte den kleinen Jungen mitten in die schwarze Samtmütze hinein. Der alte Mann erschrak ordentlich. Der Himmel wurde plötzlich grün und ganz schwarz. Aus der Erde stieg das Männlein empor, nahm den kleinen Jungen und verschwand damit. Die Menschen schrien und die Mutter weinte. Als der Himmel ganz langsam wieder heller wurde, erblickten die Menschen in den Wipfeln eines Baumes eine kleine Fee. Sie trug ein weißes langes Gewand und hatte goldene Haare. Die Menschen verstummten, denn die Fee sprach mit einer feinen klaren Stimme: "Alter Leiermann, ich will dir helfen, weil ich in all den Jahren immer deine schöne Musik hören durfte. Aber du musst etwas tun, was dir sehr schwer fällt. Zerschlage deinen Leierkasten!" "Ach ja", dachte der Mann, "ich bin schon so alt, aber der kleine Junge hat noch ein ganzes langes Leben vor sich." So ging der Mann in die Schmiede und holte sich einen schweren Hammer, und zerschlug den Kasten kurz und klein.
Da tat sich die Erde wieder auf, und der kleine Junge sprang heraus, es war ihm gar nichts geschehn. Die Mutter nahm ihn schnell auf ihre Arme und lief nach Hause. Als sie sich nun ganz erschöpft auf einen Stuhl setzte, musste sie an den alten Mann denken, der nun gar keinen Leierkasten mehr hatte. Sie erhob sich und ging in die Schlafkammer, dort griff sie unter ihr Kopfkissen und zog einen langen Strumpf heraus, der war voller Silberstücke. Sie nahm also den Strumpf und ging wieder auf den Lindenplatz. Da saß der alte Mann am Straßenrand und weinte. Es war von seinem Kasten weiter nichts übrig geblieben als ein paar Drähte. Er hielt sie in seiner Hand, und Tränen fielen darauf ."Hier hast du mein ganzes erspartes Geld", sagte die Frau leise ",aber ich gebe dir einen guten Rat. Du brauchst jetzt nicht mehr zu arbeiten, kaufe dir einen schönen schwarzen Rock, einen Hut, ein Paar neue Schuhe, die dir richtig passen. Du kannst jetzt jeden Tag Braten essen und Wein trinken. Du wirst ein vornehmer Herr und kannst ein herrliches Leben führen." Der alte Mann bedankte sich, und freute sich sehr. Aber als er so ganz still da saß, musste er darüber nachdenken, was die Frau ihm gesagt hatte. Und sonderbar, er wurde immer trauriger. "Jeden Tag Braten essen", sagte er zu sich selbst" ,das wird man leid." "Jeden Tag Wein trinken, davon wird man betrunken. Wenn ich mir einen feinen, schwarzen Rock kaufe, muss ich ihn wohl möglich jeden Tag ausbürsten, und was sind das für Umstände? Die Kinder werde ich nie mehr tanzen sehen, und was ist das für ein Leben?" Der alte Mann stand auf, ging in die Stadt, kaufte sich für das ganze Geld einen neuen Leierkasten. Ach, er war viel schöner als der andere, es war eine Pracht, ihn anzusehen. Er war ringsherum mit Blumen bemalt. Und an der Vorderwand knieten drei kleine Engel, die hatten silberne Flügel. Wenn der alte Mann nun seine Musik machte, hörte man nicht nur die wunderschönen, zitternden Töne. Die kleinen Engel bewegten ihre Köpfe hin und her, ebenso ihre kleinen, zierlichen Hände. Und das war das Rechte für die vielen Kinder in der Stadt, denn damals war das noch etwas ganz Besonderes. Da ist es dem alten Mann gut gegangen, bis er gestorben ist. Hört zu! Wenn ihr heute einen Mann mit einem Leierkasten seht, so ist es bestimmt noch derselbe Kasten. Und wenn die Engel nicht mehr davorknien, so sind sie längst zerbrochen. Und wenn die Blumen nicht mehr darauf sind, so sind sie in all den Jahren längst herunter geregnet, denn der Kasten ist bestimmt 100 Jahre alt.