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Als Maruli das Osterfest rettete
Ursus Piscis


Vor langer Zeit herrschte einmal knapp vor der Osterzeit noch immer ein gar grimmiger Winter über das gesamte Land. Hain und Flur waren tief verschneit, die Bäume bogen sich unter der Last des Schnees und von den Dächern hingen dicke Eiszapfen herab. Selbst die Kinder hatten keine rechte Lust mehr, Schneemänner zu bauen, zu rodeln oder auf den zugefrorenen Seen und Teichen Schlittschuh zu laufen, sondern sehnten sich schon nach Sonnenschein und fröhlichem Spiel auf grünem Gras.

Ein Mädchen aber vermisste den Frühling ganz besonders. „Wie soll denn der Osterhase nur durch diesen tiefen Schnee kommen? Und wenn er nicht kommt, wer wird uns dann die hübschen, bunten Eier bringen?“ fragte es sich traurig, während es in der warmen Stube saß und durch die mit Eisblumen verzierten Fensterscheiben nach draußen starrte.

Nachdem Maruli – denn so war der Name des Mädchens – eine Weile vor sich hin sinniert hatte, kam ihr plötzlich ein Einfall. „Ich will auf die Felder hinaus laufen, nach dem Osterhasen suchen und ihm helfen, seinen Weg durch den tiefen Schnee zu finden“, sprach sie zu sich selbst und schlich leise aus der Stube, um ihre Eltern nicht zu stören. Ihr Vater werkte nämlich emsig an einem neuen Zaumzeug für den Ackergaul, während ihre Mutter in der Küche eben das Mittagsmahl vorbereitete.

Rasch zog sie sich ihre fellgefütterten Stiefel an, setzte eine warme Mütze auf, schlüpfte in ihre dickste Jacke und streifte Fäustlinge über, um sich gut vor dem Frost, der vor der Haustüre auf sie wartete, zu schützen. So ausgerüstet, verließ sie das Haus und stapfte wohlgemut durch den Schnee, der ihr bald bis weit über die Knie reichte, auf die weiten Felder zu. Obwohl ein lebhafter Nordwind immer wieder so dicke Flocken vor sich her trieb, sodass sie kaum mehr ihre eigene Hand vor ihren Augen sah, kämpfte sie sich unverdrossen voran.

Nachdem Maruli bereits ein schönes Stück gegangen war, musste sie ein wenig verschnaufen. Sie blieb an einer windgeschützten Stelle hinter dem dichten Geäst einer kahlen Heckenrose stehen, auf welcher sich eine dicke Schneedecke gebildet hatte. „Hui, heute meint es der stürmische Geselle aber wieder besonders gut“, murmelte sie vor sich hin, während sie ihre Wangen betastete, die wegen der Kälte bereits glühten.

„Ja, man könnte fast meinen, dass Väterchen Frost seine Geister heuer gar nicht zurück rufen mag“, ertönte unvermittelt ein zartes Stimmchen knapp neben ihrem Kopf. Als sie sich erstaunt umsah, entdeckte sie zu ihrer Verwunderung ein kleines, bärtiges Männlein, das mit herabbaumelnden Beinen auf einem Ast saß und kunterbunt gekleidet war. Zu einer roten Zipfelmütze trug es ein gelbes Wams und eine grüne Kniebundhose und war trotz der eisigen Witterung seltsamerweise barfuß. Obwohl sie so ein Wesen noch nie zuvor gesehen hatte, grüßte Maruli es freundlich, wie es ihr von ihren Eltern gelehrt worden war. Der Wichtel erwiderte ihren Gruß und stellte sich als Zipfelrot Ohnestrumpf vor, seines Zeichens Meistereiermaler im Dienste des Osterhasen.

Erfreut klatschte das Mädchen in die Hände und rief vergnügt: “Das trifft sich aber gut! Ich wollte ohnehin zu deinem Herrn, um ihm bei dem hohen Schnee meine Hilfe anzubieten.“ „Hm, da wird ein wenig mehr Hilfe nötig sein … aber das soll er dir selbst erzählen. Und weil du dich schon bei so einem garstigen Wetter auf den Weg gemacht hast und schon weit gelaufen bist, werde ich dich nun rasch zu ihm bringen“, meinte Zipfelrot nachdenklich. Mit diesen Worten schwang der Wichtel einen winzigen Zauberstab.

Einen Augenblick später fand sich Maruli mit ihrem Begleiter zu ihrer Überraschung in einer großen Erdhöhle wieder, in welcher ein geschäftiges Treiben herrschte. Mehrere Dutzend Wichtel waren damit beschäftigt, Eier zu bemalen und in unzählige geflochtene Weidenkörbe zu verteilen. Inmitten des Trubels aber saß ein großer, brauner Hase, der in einen Gehrock aus edlem Samt gekleidet war. Traurig ließ er seine Löffel hängen und zupfte sich bekümmert seine langen Barthaare.

Verunsichert blieb das Mädchen stehen und sah sich ratlos um. Der Wichtel stieß es leicht in die Seite und raunte ihm zu: „Nur Mut, Menschenkind. Vielleicht kannst du ihm ja wieder Hoffnung geben …“

Da fasste sich das Mädchen ein Herz, schritt auf den Osterhasen zu, machte einen ehrerbietigen Knicks und sagte: „Seid gegrüßt, ehrwürdiger Meister Lampe! Mein Name ist Maruli und ich bin gekommen, um Euch meine Dienste anzubieten! Nun aber sehe ich, dass Euch der Kummer quält. Was betrübt Euer Herz?“

Bekümmert blickte der Hase das Mädchen an und erwiderte seufzend: „Ach, du bist ein gutes Kind und ich danke für deine lieben Worte. Aber auch du vermagst mir nicht zu helfen. Die holde Fee, die uns mit ihrem Gefolge jedes Jahr den Frühling bringt, muss zunächst Väterchen Frost in seinen eisigen Gefilden im hohen Norden aufsuchen und ihn daran erinnern, seine Geister zurückzurufen. Doch in diesem Jahr hatte der strenge Winterherrscher kein Einsehen und behielt die Frühlingsbringerin in seinem Schloss. Ojemine … wenn er sie nicht bald freilässt, dann wird es heuer keine blühenden Blumen, kein grünes Gras und keine Nester voll bunt gefärbter Eier zum Osterfest geben.“

„Aber das kann er doch nicht machen! Wir alle, Mensch und Tier, freuen uns doch schon so auf Wärme und Sonne!“ rief Maruli erbost. Dann dachte sie kurz nach und fügte mit entschlossener Stimme hinzu: „Nun, wenn das so ist, dann bringt mich zu ihm. Ich will ihm ein wenig ins Gewissen reden, damit er ein Einsehen hat und die Fee freilässt.“

Verdutzt blickten sich der Osterhase und der Wichtel an, da sie einem kleinen Mädchen nicht den Mut zugetraut hätten, dem grimmigen Winterherrscher die Stirn zu bieten. Schließlich zuckte Zipfelrot mit den Schultern und meinte: „Einen Versuch ist es wohl wert. Vielleicht vermag sie es ja tatsächlich, ihn milde zu stimmen.“

Mit diesen Worten schwang er seinen Zauberstab und ließ Maruli auf Wichtelgröße schrumpfen, um zusammen mit ihr den Rücken des Hasen zu erklimmen. Als sie sich einen sicheren Halt verschafft hatten, ging es mit ein paar großen Sätzen aus dem Bau des Osterhasen in den Schnee hinaus. Dank der Zauberkraft des Wichtels trug sie nun jeder Sprung gleich über viele Meilen voran, sodass sie nach kurzer Zeit den Palast von Väterchen Frost erreichten. Das Schloss war zur Gänze aus blendend weißem Schnee errichtet und von seinen Zinnen wehten Banner aus gefrorenem Nebel.

Maruli erschrak ein wenig, als sie von mehreren riesenhaften, zottigen Schraten in Empfang genommen wurden, die sie stumm in einen großen Saal führten, welcher aus spiegelndem Eis bestand. In seiner Mitte aber befand sich ein gewaltiger Thron aus Eiszapfen, auf welchem ein alter Mann saß. Sein Bart, der sich bis zu seinen Füßen hinab rollte, war ebenso weiß wie die Hermelinfelle, in die er gehüllt war.

Väterchen Frost erhob sich und rief mit donnernder Stimme: „Dich kenne ich wohl, Mümmelmann, und auch deinen Gefolgsmann aus dem Wichtelvolk. Aber wer ist dieses sterbliche Kind, das ihr in meine Hallen bringt? Und was ist euer Begehr?

Bevor der Osterhase noch antworten konnte, trat das Mädchen schon vor und sprach mit fester Stimme: „Mein Name ist Maruli und ich bin gekommen, um Euch zu bitten, die Holde Frau wieder ziehen zu lassen, damit sie uns den Frühling bringt und der Osterhase die Eier verteilen kann, die die Wichtel in mühevoller Arbeit gefärbt und bemalt haben.“

Der Winterfürst schüttelte ablehnend sein Haupt und grollte: „Warum sollte ich das tun? Meine Geister möchten noch ein wenig Spaß in euren Landen haben!“

Da nahm das tapfere Kind all seinen Mut zusammen, schritt langsam auf ihn zu, legte seine kleine, warme Hand auf den kalten Arm des grimmigen Herrschers und erzählte ihm von der Bedeutung des Frühjahrs für Mensch, Natur und Tier. Sie berichtete ihm von ihrer alten Großmutter, die jeden Tag zitternd vor ihrem kleinen Holzofen saß und bald kein Brennholz zum Einheizen mehr haben würde, und von den güldenen Fischen im Wunderteich, die fast keinen Platz mehr unter der Eisdecke fanden, so dick wie sie war.

Schließlich teilte sie auch ihre eigenen Gedanken mit ihm, die sich jeden Tag so sehr um Sonne, Wärme und blühende Natur drehten, dass sie es kaum mehr aushalten konnte. So ließ sie ihn selbst am Schicksal und an den Gefühlen all der Wesen teilhaben, die sich so sehr nach den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne sehnten.

Die rührenden Worte des kleinen Mädchens erweichten schließlich das eisige Herz des Winterkönigs: Er blickte lange in die blauen Augen Marulis, nickte schließlich leicht verstört in Richtung des Osterhasen und des Wichtels, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und gab seinen Dienern schließlich den Befehl, die Fee zu befreien.

Gleich darauf erfüllte sich die große Halle mit Blütenduft und Vogelgezwitscher, als eine geflügelte Frau hinein schwebte, die von einem strahlenden Lichtkranz umgeben wurde. Währenddessen aber löste sich Väterchen Frost mitsamt seinem Palast und seinen Dienern langsam in dichte Nebelschleier auf und verschwand.

Die Verwirrung, welche ihn mit dem Besuch des Menschenkinds ergriffen hatte, sollte ihn nie mehr wieder ganz loslassen. Seit diesem Tag vergaß er oft darauf, seine Geister auf den Weg zu schicken, obwohl längst schon der Winter Einzug halten sollte – zur Freude der einen, zum Leidwesen der anderen Wesen, die in diesen Landen hausten …

Die Fee aber schuf mit einer einzigen Handbewegung eine Regenbogenbrücke, auf welcher Maruli, der Osterhase und der Wichtel gemeinsam mit ihr und ihrem jubilierenden Gefolge aus winzigen Blumenjungfern nach Süden zogen.

Als sie schließlich Marulis Heimat erreichten und mit ihnen endlich der lange ersehnte Frühling mit Sonnenschein und die Wärme Einzug hielt, küsste die dankbare Fee Maruli zum Abschied auf die Stirn und flüsterte: „Gehabe dich wohl, mein Kind. Ich werde niemals vergessen, was du getan hast.“

Höchst zufrieden machte sich das Mädchen auf den Heimweg, während der Osterhase eilends von dannen hoppelte und sich mit seinen Helfern daran machte, doch noch rechtzeitig zum Fest alle Körbe an schneefreien Stellen zu verstecken.

So kam es also, dass die Wiederkehr des Frühlings der Tapferkeit eines kleinen Mädchen zu verdanken war, welches zum Lohn durch den Kuss der Fee für den Rest seines Lebens ein rechtes Glückskind wurde, dem seine Arbeit stets leicht von der Hand ging und das wegen seiner Freundlichkeit bei Alt und Jung beliebt war.


 Dieses Märchen wurde mir von Ursus Piscis [Kontaktadresse: michael.lentz@spree-media.net ] zur Verfügung gestellt.
Das Copyright für dieses Märchen liegt ausschließlich bei Ursus Piscis 2015