Was die Schicksalsgöttin sprach

Es gab in irgendeiner Zeit einmal einen reichen Mann, dessen Frau kein Kind bekam. Die Frau machte der allerheiligsten Gottesmutter ein Weihgeschenk, um doch eins zu bekommen. Sie gebar dann ein kleines Mädchen, und sieben Tage nach der Geburt führte sie es vor.

Da naht sich auch die Schicksalsfrau und sprach im Schlaf zu dem Vater: »Euer Kind wird eine Dirne und eine Diebin werden!«

So kam es, dass er am Morgen zu seiner Frau sagte: »Unser Kind wird eine Diebin und Dirne werden. Du Frau, ich werfe dies Kind ins Meer!«

Die Mutter erkrankte, als sie die Worte ihres Mannes hörte. Der Vater aber wurde - nachdem er das Kind schon an sich genommen hatte, um es ins Meer zu werfen und schon in die Umhängetasche gesetzt hatte - unterwegs anderen Sinnes, kehrte nach Hause zurück und sperrte es in eine abgelegene Kammer. Seine Frau jedoch war unterdessen gestorben.

Als ein wenig Zeit darüber vergangen war, heiratete der Mann. Das Kind blieb ohne Nahrung und ohne Wasser in der verschlossenen Kammer. Wie sich der Mann wieder verheiratete, sagte er zu seiner Frau: »Du kannst alle Kammern öffnen - aber die Kammer da hinten aufzumachen, hast du kein Recht. Ich würde dir sonst den Kopf abschlagen!<~ Nachdem zwei, drei Jahre ihren Lauf genommen hatten, machte die Frau die Kammer doch aus Neugierde auf, um einmal zu sehen, was wohl darin ist. Und da erblickt sie ein sehr schönes kleines Mädchen! Sie fragt es: »Wer hat dich in die Kammer hier gebracht?« Das Kind konnte aber nicht antworten. Es tat der Stiefmutter leid, und sie führte es, ohne dass der Vater etwas davon wusste, auf den Hof hinaus, dass es Luft schöpfen konnte. Ganz, ganz langsam lernte das Kind auch sprechen.

Die Stiefmutter fragte es, wie es denn in der verschlossenen Kammer so lange Zeit hätte leben können, und da sagte es: »Die Allerheiligste brachte mir zu essen, und so aß auch ich.«

Eines Tages, als die Stiefmutter das Kind wieder herausgelassen hatte, sah es in der Nachbarschaft zwei Mädchen, die beim Sticken waren. Da lief das kleine Mädchen hin und setzte sich neben die Mädchen, stahl ihnen Fäden und brachte sie der Stiefmutter. Die Mutter zwang es aber, die Fäden den Mädchen zurückzugeben. Die Mädchen sagten zu der Kleinen: »Ach, nimm sie nur - wir haben ja noch mehr!«

Die Mutter nahm dann das Kind und schloss es wieder in die Kammer ein.

Am nächsten Tag ließ sie es wieder hinaus. Da erblickt das kleine Mädchen einen Dampfer- und rennt nur so hin. Seine Mutter läuft jedoch hinter ihm her. Wie das Mädchen die Seeleute sieht, geht es an sie heran. Die Mutter sagt aber den Seeleuten, sie sollten die Kleine wegjagen, denn sie sei noch viel zu klein, und wenn sie etwa hässliche Sachen machte, wär es eine Sünde. Die Seeleute jagten sie also weg.

Danach nimmt die Mutter das kleine Mädchen und schließt es wieder in die Kammer.

Mit der Zeit wuchs das Kind heran. Später lässt die Mutter es auch wieder hinaus. Und da bekommt es den Palast des Königs zu sehen, als der Königssohn gerade draußen ist. Die Mutter, die hinter dem Mädchen hergelaufen ist, spricht zu ihm: »Komm ins Haus, mein Kind, der, den du ansiehst, ist ja der Königssohn!« Das Mädchen sagt zur Mutter. »Mutter, das ist aber ein schöner stattlicher junger Mann!« Die Mutter schloss es wieder in die Kammer ein.

In der Nacht öffnet aber das Mädchen selbst die Türe, geht hinaus und läuft zum Palast des Königs, ohne dass jemand es sieht, auch die Wache nicht. Es geht in den Palast und legt sich zu dem Königssohn ins Bett. Der Königssohn schenkt ihm dann seine Goldsachen, das Kreuz und die Krone.

Nachts - während der Königssohn im Schlafe liegt - steht es heimlich auf und läuft fort. Es läuft in seine Kammer, schließt sich ein, nachdem es die Geschenke, die ihm der Königssohn gegeben, an sich genommen hat. Am nächsten Abend lief das Mädchen wieder zum Königssohn. Der Königssohn ließ es vor sich einschlafen, und da er neben dem Bett seine Truhe stehen hatte, hob er den Deckel, klemmte die Haare des Mädchens ein und schloss ganz sacht die Truhe wieder, damit es ihm nicht fortlaufen könnte. Und das machte der Königssohn, um nachher rauszubekommen, was für ein Mädchen das überhaupt ist. Dann schlief auch er ein.

Als das Mädchen wach wird und merkt, dass seine Haare in die Truhe geklemmt sind, nimmt es die Schere, schneidet sie ab und läuft aus dem Palast, rennt heim und schließt sich wieder in die Kammer ein. Mittlerweile wurde aber das Mädchen schwanger. Als ein wenig Zeit verstrichen war, merkte die Mutter, dass sie eine Frucht im Schoße trüge, und sie fragte sie, wer in ihrem Schoß gezeugt hätte. Die Tochter sagte: »Der Königssohn.«

Wie nun die Stunde, dass sie gebären sollte, näherrückte, rief die Mutter die Spielleute zum Musikmachen. Und das tat sie, damit der Vater bei der Geburt Schreie und Weinen nicht hörte. Als die Tochter geboren hatte, gingen die Spielleute wieder fort.

Am nächsten Tage nahm die Mutter (die Großmutter) das Kind und tat es in einen Korb, legte auf das Kleine die Goldsachen des Königssohns und deckte es mit Rosen und Röslein zu. Und dann übergaben es die Frauen der Magd, damit sie auf den Markt ginge, um die Rosen zu verkaufen.

Die Magd setzte den Korb auf den Kopf, ging aus dem Hause und fing mit dem Ausschreien an: »Hier sind schöne Rosen! ... « Das hörte der Königssohn, er rief die Magd in den Palast, um Rosen zu kaufen. Sobald die Magd in den Palast eingetreten war, ließ sie den Korb stehen und lief davon.

Nun aber nimmt der Königssohn die Blumen und erblickt ein mit seinen Goldsachen bedecktes Kind. Da geht ihm auf, dass ist sein Kind. Er sagt seinem Vater, das wäre sein Kind. Da gebot der König den Wachleuten, alle Mägde der Stadt herbeizurufen, um sie zu fragen, welche von ihnen die Blumen gebracht hätte.

So fand auch die Magd sich ein, die den Korb mit den Blumen dagelassen hatte. Der Königssohn fragte sie, wer ihr die Blumen gegeben hätte, und welche Frau es auch wäre, sie müsste sie in den Palast bringen. Nun ging die Magd heim und sagte es ihrer Herrin. Die Herrin machte sich auf den Weg, ging zum Königssohn, tat ihm alles kund, was vor sich gegangen war, und auch, dass ihr Mann von nichts gewusst hätte. Der Königssohn aber sagt darauf zu der Mutter: »Die Tochter will ich zur Frau nehmen!« Die Mutter erwiderte: »Wenn du die Tochter nimmst, geben wir dir unser ganzes Vermögen!«

Mittlerweile kehrte die Mutter heim, und nun sagte sie ihrem Mann alle Einzelheiten. Der Mann begibt sich in den Palast, um sich zu vergewissern. Der Königssohn verspricht ihm, dass er die Tochter zur Frau nehmen würde. Der Vater sagt zu ihm: »Was sie getan hat, war ihr ins Schicksal geschrieben, und wenn du sie zur Frau nehmen willst, so kenne ihr Schicksal!« Der Königssohn nahm es hin, wie es war.

Es wurde Hochzeit. Da haben sie getrunken und gegessen und, uns was zu geben, vergessen.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.