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Das versteinerte Mädchen
indianisches Märchen

Im Obenauf des kristallklaren Flusses lebte einst der Indianerstamm der Ankara.

In einem Wigwam wuchs ein schönes Mädchen heran. Alle sahen es gern. Aber das Mädchen wich den Menschen aus. Jeden Morgen rief es sein schwarzweißes Hündchen und verschwand mit ihm im Wald oder in der Prärie. Dort unterhielt es sich mit den Vögeln und den Tieren, mit den Blumen und den Bäumen.

Als das Mädchen herangewachsen war, begehrten es viele junge Männer zur Frau. Aber es wies alle ab.

"Ich bin im Wald und in der Prärie zu Hause", erklärte es allen, die um es warben, "ich gehöre zu denen, die eine andere Sprache sprechen, zu denen, die im Präriegras ihre Blüten öffnen oder ihre äste zum Himmel emporstrecken. Sie alle sind meine Freunde, nur in ihrer Nähe möchte ich sein."

Die Großmutter des Mädchens sprach aber eines Tages:

"Du solltest heiraten und Kinder aufziehen wie alle jungen Frauen. Ohne Kinder würde unser Stamm aussterben."

Die Großmutter sprach so lange auf das Mädchen ein, bis es eines Tages sagte: "Es sei nach deinem Willen, ich werde heiraten. Den erstbesten, der um mich freit, will ich zum Mann nehmen. Aber ich weiß, dass daraus nichts Gutes werden kann, denn Mutter Natur will nicht, dass ich wie die anderen lebe."

Drei Tage nach der Hochzeit kam die junge Frau zur Großmutter. Schweigend setzte sie sich in eine Ecke.

"Was fehlt dir?" fragte die Großmutter. "Ist dein Mann nicht gut zu dir?"

"Er ist gut zu mir", antwortete die junge Frau, "aber mir bedeutet es nichts."

Dann erhob sie sich und schritt auf den Wald zu. Die Großmutter ging der Enkelin nach.

Nach einer Weile fand sie die junge Frau unter einem alten Ahornbaum.

"Erzähle, was dich bedrückt", sagte die Großmutter.

Die junge Frau hob den Kopf. "Ich hätte nicht heiraten sollen", sagte sie. "Ich bin nicht von dieser Welt. Ich gehöre in die Natur, und in die Natur will ich zurückkehren."

Die Großmutter ging traurig wieder nach Hause.

Abends kam die junge Frau nicht ins Dorf zurück.

Am nächsten Morgen gingen die jungen Männer, sie zu suchen.

Sie fanden sie auf einem Hügel der Prärie, bis zur Hüfte war sie zu Stein geworden.

Die jungen Männer eilten zum Häuptling. Der rief alle Frauen und Männer auf, ihm zu folgen.

Als alle am Hügel versammelt waren, zog der Häuptling die dem Stamm heilige Pfeife hervor, um sie der jungen Frau in den Mund zu legen, damit der Große Geist sie erleuchte.

Sie schüttelte aber den Kopf und sprach:

"Ich wende mein Antlitz nicht ab von den Menschen, unter denen ich gelebt habe. Aber ich gehöre der Natur. Jede Blume in der Prärie, jeder Baum und jeder Vogel unter dem Himmelszelt, jeder Bach ist ein Teil meines Herzens. Durch den Duft der Blumen und Gräser, den freien Flug der Vögel, das Beben des Laubes, den Gesang der Gewässer will ich zu euch sprechen, und ich möchte, dass ihr meine Sprache versteht, wenn ich nicht mehr unter euch weilen werde."

Als sie dies gesagt hatte, wurde sie ganz zu Stein.

Und in einen Stein verwandelte sich auch das schwarzweiße Hündchen, das sie immer begleitet hatte.

Stumm blickt das versteinerte Mädchen über die Prärie. Rings um duften die Blumen und Gräser, bebt das Laub, murmelt der Fluss.