Die verwünschte Mühle
Märchen aus dem Elsass

Eines Tages - es war ein heißer Sommertag - saß eine Großmutter bei offenem Fenster. Als sie einmal aufsah und einen flüchtigen Blick auf die Straße warf, sah sie unter einem alten, abgetragenen Hütchen einen schneeweißen Kopf, der beständig hin- und herwackelte. Einige Augenblicke später trat unter die offene Stubentür ein kleines, altes Männchen in einem alten, abgetragenen Anzug und mit krummgetretenen Schuhen, mit langem, weißem Haar und Bart. Seine Knie, seine Hände und sein Kopf schlotterten beständig hin und her, und nur mühsam schien es sich mit seinem Knotenstock aufrecht halten zu können.

Mit zitternder Stimme bat das Männchen um ein Stück Brot und ein Glas Wasser. Rasch eilte die Tochter in die Küche, um dem Armen, dem Hunger und Ermattung aus den Augen blickten, ein Stück Brot und ein Glas Wein zu holen. Hastig machte sich der Alte über sein Brot her, und im Handumdrehen war auch das letzte Krümchen verschwunden.

Dann wollte er trinken. Rasch erhob sich eine der Frauen, um dem Alten das Glas an den Mund zu führen; aber er winkte ihr, sitzen zu bleiben. Dann brachte er aus der Tasche seiner abgetragenen Jacke einen Gänsefederkiel, den er nach einigen vergeblichen Versuchen in seinen Mund führte und mit den Zähnen festhielt. Er wandte seinen Kopf dem Glas zu und wackelte mit dem unteren Ende des Federkiels bald über, bald neben dem Glase herum; aber als es ihm endlich gelang, es in den Wein zu bringen, benützte es den günstigen Augenblick, und mit einem kräftigen Zuge war das halbe Glas geleert.

»Ihr müsst schon alt sein«, meinte die Großmutter.

» So alt doch wohl nicht, als ihr vielleicht meint «, entgegnete der Kleine, » und ich will hoffen, dass ihr mindestens doppelt so alt werdet, als ich jetzt bin. «

» Doppelt so alt! « lachten die anwesenden Mädchen, » das wäre 16o- 18o Jahre; denn sicherlich seid ihr näher an go als an 8o! « »Nehmt den dritten Teil der ersten Zahl und ihr habt mein Alter genau, denn heute gerade bin ich 30 Jahre alt geworden.«

»Dreißig ... «, sagte meine Großmutter; sie konnte den Satz nicht vollenden; denn vor Staunen blieb ihr der Verstand stehen, und mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen sah sie den Zitternden an. Ihre beiden Hände, mit denen sie eben einen Faden hatte zwirbeln wollen, hielten mitten in der Arbeit ein und blieben vor Verwunderung ausgestreckt.

»ja, dreißig Jahre bin ich heute alt geworden«, antwortete das Männchen wehmütig lächelnd. »In einem Lebensalter, wo andere erst in den Vollbesitz ihrer Kraft gelangen, bin ich ein elender gebrochener Greis! Aber kein Wunder, Zu schwer drückt auf mich die Last dessen, was ich erlebt habe.«

»Oh, erzählt, erzählt!« riefen die Mädchen durcheinander, »wir hören so gerne etwas Großes und Gruseliges. Es ist zu schön! «

Neugierig rückten die Mädchen zusammen und lauschten gespannt den Worten des Erzählers. Manche stach sich bei einer unwillkürlichen Bewegung ihrer Hand in die Finger, dass es blutete, aber sie merkte es nicht.

Der Kleine begann: »Auch ich bin einmal ein junges fröhliches Blut gewesen wie ihr, und euer Vater und Mutter werden mich noch so gekannt haben; denn es sind erst 17 Jahre her Am weißen Sonntag vor 17 Jahren galt ich nicht nur als einer der gesundesten und kräftigsten Knaben, sondern auch als einer der bravsten und hoffnungsvollsten unter allen.

Als der Gottesdienst vorüber war, versammelte uns der Pfarrer vor dem Altar und sagte:

"Liebe Kinder, wenn eins von euch oder mehrere ohne Sünde sind oder es zu sein glauben, so könntet ihr heute ein großes Werk tun und eine ganze Familie armer Seelen erlösen."

Nach kurzer, aber ernstlicher Prüfung meldete ich mich mit einem Freund zu dem Werk, und der Pfarrer unterrichtete uns, was wir zu tun hatten.

Ihr kennt wohl alle die Höhlen, die an der Seite der Felsen tief in das Innere des Berges gehen. Es ist dort nicht ganz geheuer, und besonders bei Nacht geht ' niemand gern dort vorbei. Mutige Männer, die sich hingewagt haben, sagen, dass man hinten Wasser rauschen höre, namentlich, wenn es vorher stark geregnet hat. Alsdann wollen auch einige ganz deutlich das Klappern einer Mühle gehört haben, klipp klapp! klipp klapp! Und deshalb nennt man die Höhle die mit der verwünschten Mühle.

Dorthin wies uns der Pfarrer und sagte uns, wir sollten beide mit unseren Kerzen nur unbesorgt in das Innere der Höhle dringen, dort würden wir schon erfahren, was wir weiter zu tun hätten. Eine Gefahr wäre für uns nicht dabei, wenn wir vorsichtig wären. Die einzige Gefahr, die uns drohen könnte, wäre dadurch vollkommen ausgeschlossen, dass unsere Kerzen erlöschen würden, wenn wir nicht völlig für unsere Aufgabe gefeit wären.

Von Segenswünschen begleitet, machten wir uns unerschrocken auf den Weg. Beim Eingang in die Höhle zündeten wir unsere Kerzen an und gingen barfuss hinein.

Als wir eine Strecke in die Tiefe zurückgelegt hatten- denn der Weg senkte sich sehr bald stark nach unten - erlosch plötzlich die Kerze meines Kameraden, während meine ruhig weiter brannte.

Beschämt schlug mein bisheriger Begleiter den Rückweg ein, ich aber ging auf dem einmal betretenen Weg weiter. Bald hörte ich das Rauschen des Wassers, erst von ferne, dann aber näher und immer näher. jetzt konnte ich das Klappern der Mühle unterscheiden. Immer lauter und lauter klang es klipp klapp! klipp klapp! Und als ich um die Ecke des Weges bog, sah ich auf einmal vor mir eine weite Öffnung, die zu einem Stück Feld führte,. das von einem sanften Schimmer erhellt war.

Rasch durchmaß ich die wenigen Schritte, die mich von der Lichtung trennten, und ich befand mich an dem Ufer eines silberhellen Baches, der an der Felsenöffnung vorbei zu der Mühle rauschte, deren Klappern ich schon lange gehört hatte.

Am anderen Ufer des Baches standen eine Anzahl Leute, die auf meine Ankunft vorbereitet schienen und mich hier erwarteten. Es war der Müller, die Müllerin, ihr Sohn, ihre Tochter und der Knecht.

Die Tochter, ein bildhübsches Mädchen von etwa 18 Jahren denn die Gebannten altern nicht -, winkte mir freundlich, hinüberzukommen, und zeigte mir an der rechten Seite einen Steg, der mir bisher durch einen Felsvorsprung verborgen war.

Als ich glücklich bei der Müllersfamilie angekommen war, begrüßten sie mich alle herzlich und hocherfreut als den langersehnten Erretter.

»Sei uns herzlich willkommen!« sprach das Mädchen mit leuchtenden Augen. » Das Schwerste hast du überstanden, und deinem Herzen wird hoffentlich auch der Rest gelingen; denn es ist keine Gefahr für dich dabei, wenn du unerschrocken und standhaft bleibst.« »Aber komm«, sagte die Müllerin, »du wirst müde und hungrig sein von dem mühsamen Weg. Stärke dich mit Speise und Trank und durch Schlaf; denn du hast noch lange Zeit bis zur Geisterstunde, für die du ja alle deine Kraft und Entschlossenheit brauchst. «

Damit führten sie mich in die Mühle und durch die Küche in die Wohnstube. Ich musste auf einem großen Ledersessel Platz nehmen, und dann trug man mir Essen auf, lauter feine und köstliche Sachen, wie ich sie vordem noch nicht gegessen hatte und leider auch bis an mein Ende nicht mehr zu essen bekommen werde.

Alle Teller und Schüsseln waren von reinem blinkenden Zinn oder Kupfer und wie der ganze Hausrat in der Stube von einer eigentümlichen schönen Form, wie ich sie sonst nicht mehr gesehen habe.

Als ich gegessen hatte, öffnete der Müller einen sonderbar geformten, staubigen Krug, der vor ihm gestanden hatte, und schenkte mir einen schönen, silbernen Becher voll Wein, auf dem allerlei schöne Figuren standen und der innen golden war.

Ein süßer, würziger Duft verbreitete sich durch die ganze Stube, aber noch süßer und würziger war der Geschmack des Weines, und ein sanftes Wohlbehagen durchströmte alle meine Glieder, als ich davon getrunken hatte; aber ich wurde müde, dass ich meine Augen nicht mehr offen halten konnte.

Freundlich nahm mich die Müllerin bei der Hand und führte mich in ein anderes Gemach, das ebenso eigentümlich wie kostbarer ausgerüstet war als die große Stube. Dort bettete mich die Müllerin, auf ein weiches Polster und breitete eine warme Decke über meine Füße, und ich schlief ein.

Als ich wieder erwachte, stand das junge Mädchen an meinem Lager, sah mich freundlich an und sagte: »Steh auf, mein junger Freund, die Stunde ist gekommen.«

Sie entzündete meine Kerze und führte mich durch verschiedene Gänge und Treppen in ein großes dunkles Gemach. In dem befand sich nichts als ein großer, eiserner Trog.

»Dieser Trog«, begann meine junge Begleiterin, »ist voll Gold. Alles gehört dir, wenn du treu und standhaft bleibst.

Dann belehrte sie mich, was ich zu tun und zu erwarten hätte:

» Hier, nimm diesen Schlüssel und stecke ihn in das Schlüsselloch des Troges. Ich muss dich dann allein lassen. Es werden allerlei spukhafte und schreckliche Gestalten kommen und ihr Wesen mit dir treiben wollen, sei unverzagt! Sie haben trotz aller Drohung keine Gewalt über dich, wenn dein Herz rein bleibt. Eine kurze Stunde, und der Spuk ist auf ewig gebannt. Halte an dem Schlüssel fest, was auch kommen mag! Und wenn die Glocke die Mitternachtsstunde anzeigt, dann dreh deinen Schlüssel im Schloss um, und beim 12. Schlag heb den Deckel auf; alle Schätze, welche der Trog enthält, sind dann dein! «

» Aber«, entgegnete ich, » muss ich denn die ganze Stunde allein hier bleiben? Könnte ich nicht erst kurz vor Mitternacht wieder zurückkommen und den Trog öffnen?«

»Nein! «entgegnete sie, »denn wenn die Geister in der Mitternachtsstunde kommen, ist ihr Erstes, dass sie den Schlüssel wegnehmen und das Schlüsselloch des Troges verstopfen. Aber horch! Eben hat die Uhr geschlagen, in wenigen Augenblicken erscheinen die Unholde. Sei standhaft, mein Freund! « Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer, und ich war allein.

Da schlug es zum elften Mal. Dumpf und schauerlich hallten die langsamen Schläge durch den öden, unheimlichen Raum nach. Ich sprach ein Stoßgebet und harrte mit Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Meine Kerze brannte in ruhiger Flamme. Plötzlich huschte es durch das Zimmer, als ob Nachtfalter wach geworden wären; hinter mir rauschte und raschelte es wie von Mäusen und Ratten. Ich hielt meinen Schlüssel krampfhaft fest, und meine Kerze brannte ruhig weiter. Jetzt fuhr mir etwas mit unheimlichen Flügeln über das Gesicht. Es war eine riesengroße Speckmaus mit großen Krallen und einem Gesicht wie ein Totenkopf. Ich rührte mich nicht, und meine Kerze brannte ruhig weiter.

Immer größer und schrecklicher wurden die unheimlichen Gestalten, immer zudringlicher schwirrten sie um meinen Kopf, immer drohender schwangen sie ihre scharfen Krallen unmittelbar vor meinen Augen, aber das Licht meiner Kerze vermieden sie ängstlich. Da kam ein großes Gespenst, gleich einer riesigen schwarzen Katze, mit Flügeln und feurigen Augen, glühenden Krallen und Zähnen. Das kam langsam heran und wollte mich fauchend und speiend von dem Trog wegdrängen. Ich schauderte, meine Haare standen zu Berge, aber ich hielt meinen Schlüssel fest, und meine Kerze brannte ruhig weiter.

Bis dahin waren die bösen Geister stumm gewesen, jetzt aber begannen sie einen ohrenzerreißenden Lärm; immer dichter umschwärmten sie mich, ich fühlte ihren heißen Atem in meinen Ohren, die Hitze ihrer Krallen in meinen geblendeten Augen; aber nichts konnte mir den Schlüssel entwinden, und meine Kerze brannte ruhig weiter.

Da kroch auf einmal eine unförmige Masse aus der Tiefe und setzte sich mir gerade gegenüber auf den Deckel des eisernen Troges. Es war eine große Kröte. Grün und gelb leuchtete jede Warze ihrer runzligen Haut. Mit stieren Augen glotzte sie mich an. Plötzlich richtete sie sich auf, und mit ihrer ganzen Kraft spie sie all ihr Gift und Geifer über mich. Schaudernd spürte ich die Tropfen des Giftes gleich glühendem Metall über meinen Körper hinabrieseln; aber ich blieb fest und standhaft, und meine Kerze brannte ruhig weiter.

Da ertönte der erste Schlag der Mitternachtsstunde, und die Kröte verschwand! Froh, die schwere Probe glücklich überstanden zu haben, begann ich, meinen Schlüssel im Loch zu drehen, um beim zwölften Schlag den Deckel sofort aufheben zu können.

Dabei dachte ich mir: »Nun ist all das Gold in diesem Trog dein! Du brauchst dich dein Leben lang nicht zu plagen wie die anderen armen Schlucker, alle Zeit kannst du ein lustiges, fröhliches Leben führen und die anderen für dich arbeiten ... « Noch hatte ich meinen Gedanken nicht ausgedacht, da fuhr mir ein gewaltiger Stoß vor die Brust, dass ich betäubt auf den Boden sank, und meine Kerze erlosch! ...

Als ich aus schwerer Betäubung erwachte, stand das junge Mädchen neben mir und sah mich tieftraurig an.

» 0 mein Freund, warum hast du das getan? Noch im letzten Augenblick hast du dein Herz unrechten Gedanken geöffnet und uns damit auf weitere 100 Jahre in den Bann zurückgestoßen, dich selbst aber um dein Heil und auf der Erde um Ruhe gebracht! «

jetzt erst bemerkte ich, dass ich den Schlüssel, an dem aber der Bart im Schloss abgebrochen war, krampfhaft in der Hand hielt, meine Kerze aber lag neben mir, in 1000 Stücke zersplittert.

Mitleidig begann das schöne Mädchen wieder: » Ich will wenigstens die schlimmsten Folgen des Krötengiftes von deinem Körper wischen, wenn ich sie auch nicht ganz vertilgen kann, du wirst schwer genug an dem zu tragen haben, was bleibt, Wenn du standhaft geblieben wärst bis ans Ende, so wäre auch das Gift spurlos an deinem Körper herab geglitten. Aber nun komm! Der neue Morgen darf dich nicht mehr bei uns treffen. (4

Hierauf nahm sie mich bei der Hand, führte mich zum Bach zurück, ließ mich über die Brücke gehen und zeigte mir den Eingang zum Weg nach oben. Seufzend suchte ich, den steilen Pfad hinauf zuklimmen. Oft stieß ich im Finstern meinen Kopf an einen harten Felsen, oft glitschte mein Fuß auf dem feuchten Boden aus. Immer schwerer wurde mein Atem, immer unsicherer mein Schritt.

Endlich, endlich sah ich vor mir einen hellen Punkt. Es war das Tageslicht! Mit den letzten Kräften schleppte ich meinen müden Leib nach oben und sank an der Mündung der Höhle ohnmächtig ins Gras.

Als ich erwachte, fühlte ich mich nur wenig gestärkt. Mühsam schleppte ich mich auf dem Weg nach Haus zurück. Die Leute, denen ich begegnete, sahen mich mit verwunderten Blicken an, und wenn ich einen von ihnen mit Namen anrief, sagte jeder: »Woher kennt ihr meinen Namen? Euch habe ich, noch nie gesehen! «

Ich ging in das Haus meiner Eltern; alle sahen fremd auf den Eindringling, und mein Vater wollte mir die Tür weisen: »Ei Vater! Kennt ihr mich denn nicht mehr?« rief ich in heller Angst, » ich bin euer Sohn! «

Da lachte er bitter: »Ihr mein Sohn? Mein Sohn ist ein schöner, braver, junger Bub. Er kommt morgen in einer goldenen Kutsche. Ihr aber seid ein alter elender Lump. Macht, dass ihr aus der Stube kommt, sonst rufe ich den Gendarm! «

»Ich ein alter Lump?« rief ich voll Entsetzen und trat an den Spiegel. Aber ich kannte das Gesicht nicht, das mir entgegen grinste. Meine Wangen waren eingesunken, meine Haut runzlig und aschfahl geworden und mein Haar und meine Augenbrauen weiß wie Schnee!

Traurig schlich ich aus meines Vaters Haus. Meine Mutter schenkte mir aus Mitleid mit dem Alten, dem Gott den Verstand verrückt, eine harte Brotkruste und ging ungerührt ihrer Arbeit nach. «

So endete des alten Männlein Bericht. Zitternd erhob es sich und nahm den Stab, der an die Wand gelehnt war. Mit freundlichem Nicken verabschiedete es sich von den Mädchen, die in tiefer Bewegung über sein trauriges Geschick keine Worte finden konnten, und ging mit zitternden Schritten zur Tür hinaus. Dann sah ihn die Großmutter von ihrem Platz am Fenster aus schlotternden Ganges durch die Gassen schreiten, bis er in Richtung der Höhle mit der verwünschten Mühle ihren Blicken entschwand. Es war das letzte Mal, dass man das kleine Männchen gesehen hat.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [ chax@wtal.de ] zur Verfügung gestellt.